26. Sokratisches Treffen

Termin:
17./18. März 2001 in Mannheim, Hotel Wartburg


Den Vorsitz teilen sich:

Frau Prof. Höhl, Schriftsteller Alfried Lehner, Dr. Wolfgang von der Weppen

Programm


Berichte vom Samstag, den 17. März 2001


9.15 Uhr Eröffnung durch Schriftsteller Alfried Lehner

9.30 - 11.00 Prof. Dr. Fröschle:
Goethes Verhältnis zu Volk und Nation"

Ab 10.30 Uhr Aussprache

Professor Fröschle stellte seinen Vortrag in die aktuelle Situation, in der die Nationen Europas mehr und mehr zusammenrücken. Er machte deutlich, "wie viele politische Umbrüche und damit verbundene Umwertungen politischer Gegebenheiten" Goethe im Verlauf seines langen Lebens beschieden waren: die Auflösungserscheinungen des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, die Besetzung Frankfurts durch Französische Truppen im Rahmen des siebenjährigen Krieges, die Französische Revolution, die Koalitionskriege, die französische Besetzung von Mainz, die napoleonischen Kriege, das Ende des Reiches, die Gründung des Rheinbunds, Napoleons Herrschaft über Deutschland, der Aufstieg Rußlands, die Neuordnung Europas durch den Wiener Kongreß, die Restauration unter Metternich und schließlich gegen Ende von Goethes Leben die Julirevolution in Frankreich. Vor diesem geschichtlichen Hintergrund fächerte Hartmut Fröschle das Leben Goethes auf, das für den Hörer besonders durch die zahlreichen ausführlich zitierten Stellungnahmen des Dichters und Politikers am Weimarer Hofe zu den jeweiligen politischen Lagen wiedererweckt wurde. Dabei erwies sich Goethes politische Weitsichtigkeit und scharfsinnige Lagebeurteilung, die zuweilen eine geradezu verblüffende Aktualität für unsere Zeit gewinnt. Von Einfluß auf dieses Denken war die "Luft der Aufklärung", die der Student in Leipzig einatmete. "Eine entscheidende Wendung seines Weltbildes" wurde durch die Begegnung mit Johann Gottfried Herder und Justus Möser herbeigeführt. Herder führte ihn in Straßburg in die Gedankenwelt des Sturm und Drang ein, deren Umwertung literarischer und künstlerischer Zeugnisse den Wert der Volksdichtung und der nationalen mittelalterlichen Kultur hervorhob. Goethe sammelte im Elsaß Volkslieder und bereicherte die deutsche Lyrik durch volksliedhafte Lieder wie das "Heidenröslein". Mösers und Herders Einfluß führten schließlich auch zu dem Drama "Götz von Berlichingen", wobei der Redner auf die dichterische Freiheit in der Darstellung der Zustände im Reich hinwies. Das "Reichische Empfinden" war auch Gegenstand der Gespräche mit den beiden Prinzen von Weimar bei deren Besuch in Frankfurt im Dezember 1774. Auch im "Egmont", der sich an "Götz von Berlichingen" anschloß, geht es um Herrschaft und Volksfreiheit. "In seiner endgültigen, 1788 veröffentlichten Form ist schon eine Ahnung der kommenden Revolution zu spüren." In diesem Zusammenhang zitierte Fröschle aus den Gesprächen mit Eckermann von 1824, "daß irgendeine große Revolution nie Schuld des Volkes ist, sondern der Regierung.

Revolutionen sind ganz unmöglich, sobald die Regierungen fortwährend gerecht und fortwährend wach sind, so daß sie ihnen durch zeitgemäße Verbesserungen entgegenkommen und sich nicht so lange sträuben, bis das Notwendige von unten her erzwungen wird." Nach seinem Eintritt in den Fürstendienst 1775 ging Goethe "in elf Jahren durch die Schule der praktischen Administration eines deutschen Kleinstaates" in einer Zeit der Auflösung des Reiches und wurde dabei auch in die komplizierte Reichspolitik verwickelt (Verhandlungen des Fürsten 1784 über die Gründung eines deutschen Fürstenbundes). "Das liebe heil'ge röm'sche Reich, / Wie hält's nur noch zusammen?" zitierte der Redner den Zechgenossen in Auerbachs Keller und verwies auch auf die Halsbandaffaire, die Goethe im "Groß-Cophta" verarbeitet hat.

"Der Ausbruch der Französischen Revolution verursachte bei Goethe ein lebenslanges Trauma." Vor diesem Hintergrund des Schocks über das entfesselte Chaos erläuterte der Redner die späteren politischen Äußerungen Goethes, der lange Zeit den Glauben an die Befähigung der Deutschen zum Erhalt ihrer nationalen Unabhängigkeit verloren hatte (Beispiele aus den Xenien, aus Briefen und mündliche Äußerungen sowie Hermann und Dorothea). Um so mehr bemühte sich Goethe in jener Zeit um die Förderung der deutschen Kultur. Der Redner zitierte ausführliche Äußerungen Goethes und auch Schillers zu Lage der deutschen Nation (Schillers Gedichtfragment Deutsche Größe, Goethes Aufsatz Literarischer Sansculottismus (1795)). Obgleich Goethe zur Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im August 1806 schwieg, kann seine "reichische Gesinnung" bis ins hohe Alter nachgewiesen werden (Heinrich von Sbrik). Die Niederlage Preußens bei Jena und Auerstedt scheint Goethe nicht unvorbereitet getroffen zu haben. Die Trauer der jungen Romantiker über den Verlust der "alten deutschen Herrlichkeit" konnte er in seinem realistischen Sinn nicht nachvollziehen. Fröschle führte überzeugende Beispiele zu der nüchternen politischen Lagebeurteilung Goethes an, die einem Politiker der Gegenwart zur Ehre gereichen würden (Brief an Zelter sowie aus den Gesprächen). Napoleon als maßlosen Usurpator erkannte Goethe erst sehr spät. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für das Eintreten Goethes für seinen Herzog ist die flammende Entgegnung gegenüber Johannes Falk, als dieser ihn über die Liste französischer Anschuldigungen gegen Karl August informierte. Aus dieser Zeit brachte der Redner zahlreiche Beispiele, wie sich Goethe bemühte, in der Zeit politischer Ohnmacht und Zerrissenheit die deutsche Kultur zu pflegen. Er wollte sogar 1808 "einen Kongreß ausgezeichneter Männer zustande bringen, damit sie über Gegenstände der deutschen Kultur sich gemeinschaftlich beraten" (zit, n. Bode). Ab 1812 ist bei Goethe eine gewisse Resignation festzustellen (Gespräche mit Stolberg, W. v. Humboldt in Karlsbad, später mit G. Körner und E. M. Arndt in Dresden). Seine Weitsicht war so klar, daß er den Mißerfolg der Weimarischen Freischar Kiesers voraussah und seinen Sohn von einer freiwilligen Beteiligung abhielt. Ein überwältigendes Zeugnis von der warmherzigen Zuwendung Goethes zur deutschen Nation zitierte Fröschle aus Luden: Rückblicke in mein Leben. Goethe hielt aus politischer Klugheit den vaterlandsbegeisterten Luden davon ab, eine kämpferische Zeitschrift ("Nemesis") zu gründen, die den Aufstand der Nation geistig vorbereiten sollte. Goethes Begründung ist die eines klugen und weitsichtigen Politikers. Der Redner zog weitere Briefe Goethes heran, aus denen seine Skepsis gegenüber dem Solidaritätsgefühl der Deutschen deutlich wird. (an Karl Ludwig und Karoline von Woltmann sowie Franz Bernhard von Buchholz). Goethe betont hier den "Fehler der Deutschen, einander im Wege zu stehen", um gleichzeitig den Vorzug der Nation hervorzuheben, "daß nämlich vielleicht in keiner anderen so viele vorzügliche Individuen geboren werden und nebeneinander existieren."

Im hohen Alter nahm Goethe gegenüber Eckermann zu den Vorwürfen Stellung, daß er in den Freiheitskriegen weder zu den Waffen gegriffen noch politische Gedichte verfaßt habe. Dabei durchschaut er scharfsinnig die klischeehaften Vorwürfe, die letztlich auf eine Verurteilung des blinden Eifers hinauslaufen, der übersieht, daß jeder nach seinen Fähigkeiten handeln muß, wenn ein Vorhaben Erfolg haben soll: "Kriegslieder schreiben und im Zimmer sitzen! - Das wäre meine Art gewesen! - Aus dem Bivouac heraus, wo man nachts die Pferde der feindlichen Vorposten wiehern hört: da hätte ich es mir gefallen lassen! Aber das war nicht mein Leben und nicht meine Sache, sondern die von Theodor Körner. Ihn kleiden seine Kriegslieder auch ganz vollkommen. Bei mir aber, der ich keine kriegerische Natur bin und keinen kriegerischen Sinn habe, würden Kriegslieder eine Maske gewesen sein, die mir schlecht zu Gesicht gestanden hätte." Den Vorwurf, er sei ein Fürstenknecht gewesen, kommentiert Goethe gegenüber Eckermann: "Diene ich etwa einem Tyrannen? Einem Despoten? - Diene ich denn etwa einem solchen, der auf Kosten des Volkes nur seinen eigenen Lüsten lebt?" Und dann zeichnet Goethe ein Bild der Hochachtung und Zuneigung zu Karl August, das in seiner menschlichen Wärme bewegend ist. Im Hinblick auf eine vielseitige Kultur entwirft Goethe geradezu ein Konzept, wie wir es heute in unserem Land aus der Kulturhoheit der Länder kennen. Schließlich stellte der Redner seinen Zuhörern den weisen abgeklärten Goethe des Jahres 1827 in einem Brief an Th. Carlyle vor: "Eine wahrhaft allgemeine Duldung wird am sichersten erreicht, wenn man das Besondere der einzelnen Menschen und Völkerschaften auf sich beruhen läßt, bei der Überzeugung jedoch festhält, daß das wahrhaft Verdienstliche sich dadurch auszeichnet, daß es der ganzen Menschheit angehört. Zu einer solchen Vermittlung und wechselseitigen Anerkennung tragen die Deutschen seit langer Zeit bei." (Eckermann)

Alfried Lehner

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11.15- 12.45 Uhr Dr. rer.nat. U.F. Wodarzik:

"Sind wir Bürger zweier Welten? Was bedeutet uns Kant heute?"

Eine exoterische Darstellung seiner Transzendental-Philosophie

Ab 12.15 Uhr Aussprache

Dr. Wodarzik ließ Kant nicht nur zum Prüfstein für modernes, zeitgenössisches Welterfassen werden, sondern zum Prüfstein für klares metaphysisches Denken schlechthin. In Fortführung seines Vortrags vor zwei Jahren spitzte er die Kantsche Problematik auf die Frage zu: Sind wir Bürger zweier Welten? Der Philosoph und Vertreter der theoretischen Physik begnügte sich nicht mit einer erkenntnistheoretischen Fragestellung in Bezug auf Erkenntnis, besonders - was ja naheliegen würde - naturwissenschaftliche Erkenntnis, vielmehr ging es ihm um die aporetische Daseinsstruktur des Menschen selbst.

In einem Überblick, der kursorisch bis Augustinus und Aristoteles zurückführte, wurde insbesondere Kants Denkleistung herausgestellte, den Rationalismus Descartscher Observanz und den Empirismus Lockes und den Skeptizismus Humes in all deren Gegensätzlichkeit überwunden und zu einem Ganzen der Welterfassung und Weltdeutung gemacht und damit neue Grundlagen gelegt zu haben. Freilich: das aporetische Dasein des Menschen wird im Widerspruch manifest, wie ihn Kant schon in der Vorrede der Kritik der reinen Vernunft von 1781 angedeutet hat: die menschliche Vernunft werde von Fragen belästigt, welche sie nicht abweisen kann, welche sie aber auch nicht beantworten kann, da menschliche Erkenntnis dazu nicht ausreiche. In der Beschränkung Kants auf die Gegebenheiten der Einheit der transzendentalen Apperzeption schimmert für Wodarzik eine Art sokratischen Nichtwissens durch. Im Grenzbegriff des Ding an sich, eines etwas unglücklichen Terminus sei jedoch jeder Relativierung vorgebeugt: "Wir erkennen, daß das Ansichsein als transzendentale Idee für die sittliche Freiheit gegenüber dem Naturmechanismus außerordentlich entscheidend ist." Natur und Freiheit - die beiden Pole, in jenem Grenzbegriff in ein Ganzes gezwungen.

Wodarzik läßt die entscheidenden Stationen Kants in der Entwicklung der Gedanken zur "Kritik der reinen Vernunft" ebenso eindrucksvoll Revue passieren wie die ersten Reaktionen Goethes, Schillers, Moses Mendelsohns, Schopenhauers oder Heines. Subtil wird der Aufbau der Schrift resümiert, ihre Vorgeschichte einbezogen und entfaltet, deren Wirkungsgeschichte von Fichte, von Schopenhauer, Deussen oder Nietzsche bis zum Physiker Erwin Schrödinger angeschlagen und ein Seitenblick auf die von Deussen gezogene Parallele zum buddhistischen Denken gewagt. Sind wir Bürger zweier Welten? Dies war die Frage die Wodarzik im Hinblick auf Kant stellte. Erfahrbare und intelligible Welt sind insofern miteinander verknüpft als die physische Welt und die moralische Welt nur über das Subjekt, über "das Gesetz in mir" in Einklang zu bringen sind. Der Untertitel des Vortrags lautete: Was bedeutet uns Kant heute? In einer Welt, in der Demut und Ehrfurcht vor dem Schönen und Erhabenen im Schwinden scheint, bedarf es mehr denn je, wie Wodarzik unter Hinweis auf Herbert Kesslers Mahnung, ausführte, einer globalen Wertethik. Hier kann Kant wie kein zweiter Wegweiser sein.

v.d.Weppen

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15.15- 16.15 Uhr Prof. Dr. Peter Heintel:

"Zeitverzögerung, Muße, Beschleunigungskrise"

Ab 15.45 Uhr Aussprache

Wenn ein Philosoph gleichzeitig auch ein Psychologe ist, dann ist immer etwas Besonderes zu erwarten, man ist gespannt. So waren wir es alle, als Univ. Prof. Dr. Heintel - er hat sich in Philosophie und Psychologie habilitiert - mit seinem Vortrag begann. Sein Vortrag war getragen von einer reichen Umsetzung von philosophischer Weisheit und psychologischer Kenntnis, vom menschlichen Miteinander. Was den Vortrag besonders farbig und interessant machte, war der lockere Vortragstil verbunden mit Witz und Charme neben der gediegenen Sachkenntnis. Wie andere auch (z. B. Peter Kafka, und der Franzose Virillo), hat Prof. Heintel klar erkannt, daß wir in einer Zeitkrise stecken, daß Fortschrittsdenken unsere Lebensqualität gefährdet. Was für eine Zeitkultur sollen wir anstreben? Wie sollen wir die Zeit einteilen, wie mit ihr umgehen? Die ständige Beschleunigung unser Lebenswelt wird im Grunde immer unerträglicher. Es müssen wohl die vielen materiellen Möglichkeiten sein, ferner gibt es so viel in der Medienwelt zu sehen, was unsere Lust nach mehr steigert, woraus der sinnlich gefühlte Zeitdruck entsteht, man könnte ja etwas verpassen. Besonders widmete sich der Referent dem Verhältnis von Zeitmanagement und der Lebenskunst. Worin besteht ein geglücktes Leben? Nie nehmen wir uns Zeit danach zu fragen, wir schieben diese Frage in die ferne Zukunft. Die Zeit beschleunigt uns wie in einem Wirbel in eine unbestimmte Zukunft und oft übersehen wir Kostbares und Wertvolles, das in der Gegenwart plötzlich aufblitzt oder bereits in der sicheren und faktischen Vergangenheit liegt. Ob unser Leben gelungen oder geglückt ist, so der Referent, davon haben wir während unserer Lebenszeit nur Augenblickserfahrungen, erst an seinem Ende wissen wir es. Aber weil es uns oft an Muße fehlt, kommen wir nur selten zu einer Grundbilanz. Die Hoffnung, doch noch weiter zu leben, hält uns vor diesem Bilanzieren zurück, das faktische Ende, der Tod, verwehrt uns den irdischen Rückblick. In diesem Kontext fällt mir der tiefe und berühmte Ausspruch des Anaximandros ein - sein einziges Fragment -, es zeigt uns, daß auch in vorsokratischer Zeit große Denker und Philosophen die Probleme der Zeit erkannten, die sie auf ihre Weise in den Griff zu bekommen versuchten: "Woraus aber die Dinge ihre Entstehung haben, darein finde auch ihr Untergang statt, gemäß der Schuldigkeit. Denn sie leisteten einander Sühne und Buße für die Ungerechtigkeit, gemäß der Verordnung der Zeit."

Lebenskunst, so könnte man heute meinen, bestehe nur in der Beherrschung von Streßsituationen, Entspannungstechniken oder der richtigen Dosierung von Auf- oder Abputschmittel. Lebenskunst hat etwas mit Muße zu tun. Ein Müßiggänger hat ein völlig anderes Zeitverständnis als ein von der Beschleunigungskrise erfaßter Tätiger. Wer hat nun mehr vom Leben, der Flaneur oder der Rastlose? Nun, die Lebenswirklichkeit und die Forderungen des Tages verbieten einseitige Lebensweisen. Lebenskunst und Zeitgestaltung sind in der dauernden Lösungspflicht dieses Widerspruchs innig verschwistert, so hörten wir. Das Leben ist der beste Lehrmeister. Woher weiß man, was seinem Lebenszweck entspricht? Vielleicht mag neben den vielen Verlockungen des Daseins auch das Nichtwissen um seinen Lebenszweck die Hast der Menschen erklären. Das Überleben in der Natur ist innerer Zweck des Lebens; das gilt auch für den Menschen, aber ihm geht es im Gegensatz zu anderen Lebewesen außerdem um ein zweites Leben, nämlich das bessere Leben. So lebt der Mensch von Anfang an in "zwei Leben". Und es ist die Lebenskunst zusammen mit der Zeitverzögerung, die diese Lebensentzweiung von Natur (= das gegenwärtige Leben an sich) und Geist (= das vermutete oder geglaubte bessere Leben in der Zukunft) versöhnt, erklärte uns der Referent. Die vermittelnde Instanz der Entzweiung von Körper und Geist ist die Lebenskunst, sie hat eine ästhetische Dimension. Hier offenbarte sich kantisches Gedankengut aus der Kritik der Urteilskraft. Heute wird uns Selbstverwirklichung durch "Schnellebigkeit" versprochen, je schneller, desto mehr, desto besser; Schnellere gewinnen immer, "Zeit ist Geld". Unsere westlichen Gesellschaften klagen, "daß uns die Arbeit ausgeht", obwohl es viele Tätigkeiten im Leben gibt, die nicht zur Arbeit gezählt werden. Die Unterwerfung des Lebens unter die von uns gesetzten Sachzwänge hat uns viel eingebracht: Reichtum, Wohlstand, eine unglaubliche Gütervielfalt und raffinierte Produkte, von denen die Menschen früher nur in Märchen und Utopien träumen konnten. Alles Verdienst unserer rastlosen Tätigkeit, so schloß der Vortragende. Und immer noch sind wir auf der Suche nach einem noch besseren Leben. Hier ist ein hübsches Zitat von Prof. Heintel aus seinem Essay "Zeitmanagement und Lebenskunst" von 1999: "Denn die schnelle Abfolge von immer Neuem läßt uns an die Illusion glauben, immer größere Teile des Noch-Nicht erobert zu haben. Dabei werden wir aber das Hamsterraddrehgefühl nicht so richtig los." Offenbar setzt sich in unserer Gesellschaft immer mehr das Bewußtsein durch, daß der Fortschrittsglauben an Besseres nicht das letzte Bessere sein kann; Müdigkeit, so wurde uns deutlich mitgeteilt, macht sich breit im Überfluß, Überbefriedigtsein verlangt nach raffinierter Würze. Das bessere Leben kann nicht von außen kommen, was uns recht klar und deutlich die Geschichte lehrt und lehren sollte. Neben diesem nachdenklichen Themenkomplex, der natürlich nur tangiert werden konnte, hörten wir nette Anekdoten aus seiner Schulzeit bis hin zu seinen Erfahrungen mit Projektmanagementfragen und der damit verknüpften Sozial- und Organisationsdynamik. Hier sprach auch ein Sozialwissenschaftler und ein erfahrender Didaktiker zu uns, wir hörten ihm sehr gern zu. Sein Wissen, eingebettet in Lebenserfahrung war getragen durch die Vermittlung zwischen Abstraktion und Lebenspraxis, häufig anekdotisch durchsetzt. Der Vortrag von Prof. Heintel stiftete bei uns so manches Nachdenken über unsere schnellebige Zeit. Halten wir die sokratische Gelassenheit in uns wach und hören wir im hektischen und lärmenden Treiben der Welt auf das schillerscher Wort: "Still und allmählich gedeiht das Köstliche."

Neben dem "Verein zur Verzögerung der Zeit" steht Univ. Prof. Dr. Heintel auch dem Institut für Konfliktforschung in Klagenfurt vor. Manch einer erkundigte sich gleich nach dem Vortrag persönlich bei Prof. Heintel, um zu erfahren, wie man in seinem Verein Mitglied werden kann.

Ulrich F. Wodarzik

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17.00-18.30 Uhr: Dr. Karl W. Beinhauer:

"Forschungen zum Homo heidelbergensis von Mauer an der Elsenz in Baden"

Ab 18.00 Uhr Aussprache

"Forschungen zum Homo heidelbergensis von Mauer an der Elsenz in Baden"

Mit viel Begeisterung und Engagement vorgetragen hörten wir vom Homo erectus, dem sogenannten frühen Menschenwesen. In wissenschaftlich klarer Manier erzählte uns Herr Dr. Beinhauer, Mitglied der Archäometrie-Arbeitsgruppe von dem Unterkieferknochenfund in der Nähe des Örtchen Mauer, südlich von Neckargemünd oder 10 km südöstlich von Heidelberg. Dieser bedeutende Fossilienfund wurde am 21. 10. 1907 nach systematischer Suche beim Ausheben von Sand von dem Sandgrubenarbeiter Daniel Hartmann (1854-1952) in einer Schippe Sand entdeckt. Die in "Anatomie trainierten" Sandgrubenarbeiter schaufelten eifrig um die Wette, darunter auch D. Hartmann. Dieser schrie spontan "er sei dem Adam zugehörig", als er den Knochen auf seiner Schippe sah; er erkannte sofort, daß es sich um einen menschenähnlichen Fund handeln mußte. Diesem Unterkieferknochen wurde 1908 durch O. Schoetensack der nomenklatorische Begriff des Homo erectus heidelbergensis zugeordnet. Die Kiesgrube in der Nähe von Mauer erlangte durch die Fossilienfunde Berühmtheit und damit wurde das früheste Zeichen menschlichen Lebens in Europa auch mit dem Namen Heidelberg verknüpft.

Dieser Unterkieferfund ist von überragender Bedeutung für die Archäologie der ältesten Kulturen Deutschlands oder im weiteren Sinne für das Auftreten des Frühmenschen in Europa, so hörten wir vom Referenten. Eine wissenschaftliche Schätzung für das Alter des Unterkiefers sei etwa in der Größenordnung von 600000-700000 Jahren. Eine unvorstellbare Zeitspanne in die Vergangenheit, wenn wir uns vor Augen halten, daß zivilisatorische Beweise (Schrifttafeln o. ä.) etwa nur 6000 Jahre zurückzudatieren sind. Dieses Wesen, genannt Homo erectus heidelbergensis dessen Unterkieferknochen 1907 gefunden wurde, soll noch vor dem Neandertaler existiert haben. Der Unterkieferknochenfund befindet sich zur Zeit unter den Fossiliensammlungen des Geologisch-Paläontologischen Instituts der Universität Heidelberg. Herr Dr. Beinhauer, Leiter der archäologischen Sammlungen des Reiss-Museum in Mannheim hat mehrere gut lesbare Texte und wissenschaftliche Aufsätze verfaßt, die über das Auftreten des ersten Menschenwesens in Europa berichten. Er ist ferner Mitherausgeber des gut gelungenen Bildbandes "Schichten - 85 Jahre Homo erectus heidelbergensis von Mauer."

Die Entdeckung des frühmenschlichen Unterkiefers in der Sandgrube "Grafenrain" zu Mauer war ein sensationeller und wissenschaftlicher Akt, schwärmte der Referent. Nicht nur Regionalgeschichte und europäische Geschichte, sondern in gewisser Weise auch Weltgeschichte sei durch den Fossilienfund dokumentiert. Der Unterkiefer, den der Urneckar im Laufe der Zeit mit seiner Sandfracht bewegte und bis zum Funddatum aufbewahrte, ist bis heute wohl das älteste Zeugnis eines menschenähnlichen Lebewesens in Europa. Schon 1887 besuchten Archäologen regelmäßig die Sandgruben am Neckar, besonders diejenige in Grafenrain bei Mauer. Man sagte auf Grund der damaligen Kenntnisse voraus, daß ein gemeinsames Vorkommen von Tierfossilien, menschenähnlichen Knochenresten und Artefakte in diesen Flusssanden möglich wäre. Einmalig, so der Referent sei beim Homo erectus das zunehmende Gehirnvolumen, nämlich von 700 cm3 bis zu 1300 qcm3, was aus der Geometrie des Unterkiefernknochen geschlossen wurde.

Das Problem der Datierung des Fundes und die Zuordnung zu einem menschenähnlichen Wesen steht naturgemäß im Zentrum des Interesses. Wissenschaftliche Untersuchungen und Überlegungen, so hörten wir von Herrn Dr. Beinhauer, führten aber wohl eindeutig zum Schluß, daß der Fossilienfund - der medizinische Begriff für den Unterkiefer ist die Mandibula - von einem menschenähnlichen Wesen stammt. Viele Fragen im Zusammenhang mit der Altsteinzeit ergeben sich. Die Mandibula beweist - wenn die Datierung des Fundes als Unterkieferknochen eines Frühmenschen stimmt - daß vor mehr als 600000 Jahren Menschen oder menschenähnliche Lebewesen im Rhein-Neckar-Raum existierten. Dieser nach dem Fundgebiet Homo erectus heidelbergensis benannte Frühmensch muß demnach der älteste Europäer sein. Nach neuesten Forschungserkenntnissen handelt es sich bei den, in derselben Grube gefundenen Gegenständen um Artefakte, die eindeutig Steingeräten zuzuordnen seien. Diese wurden vom Frühmenschen bearbeitet und verwendet. Diese Steinwerkzeuge wurden tatsächlich in derselben Schicht wie die Mandibula von Mauer gefunden. So ist die Vermutung wohl korrekt, daß der Aufenthaltsort des homo erectus sich ganz in der Nähe der Fundstelle des Unterkiefers befinden könnte. Wir hörten weiter von zwei Forschungsbohrungen im Oktober 1991 in der Nähe der Fundstelle, dessen Bohrkerne einige fossilen Überraschungen zu Tage brachten.

Während des Vortrags hatte man den Eindruck, daß hier mit kriminalistischem und enthusiastischem Gespür dem Rätsel des ältesten Europäers auf den Grund gegangen wurde. Herr Dr. Beinhauer ließ uns alle daran teilnehmen. Während seines liebevoll vorgetragenen Rundgangs durch die Archäologie in Ansehung des Homo erectus heidelbergensis, bemerkten wir zunächst nicht, wie die Zeit - TEMPUS EDAX RERUM - rasant fortschritt.

Ulrich F. Wodarzik

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Berichte vom Sonntag, den 18. März 2001

9.30-11.00 Uhr Dr. Hanspeter Rings:

"Die Quadratur des Goethe? Der Dichter in Mannheim"

Ab 10.30 Uhr Aussprache

Ein vielversprechender Titel - der im Vortrag auch eingelöst wurde - über Goethes Kurzbesuche in der Quadratestadt Mannheim. Wir hörten vom Referenten über Goethes Mannheim und Mannheims Goethe. Goethe (1749-1832) besuchte Mannheim das erste Mal 1769 und schaute sich mit großem Erstaunen den Antikensaal mit Gipsabgüssen antiker Skulpturen an. Der Antikensaal oder der "Saal der Statuen", wie er in einem Reiseführer "Pfälz,ische Merkwürdigkeiten" aus dem Jahr 1784 genannt wurde, befand sich im Quadrat F 6,1. Heute findet man dort nur schmucklose Nachkriegsbauten. Alle überlebensgroßen Abgüsse antiker Originale, die der jugendliche Goethe bestaunen konnte, sind verloren gegangen. Wir nehmen heute an, daß Goethe seinen gleichsam bildenden Eindruck von der klassischen Antike beim Anblick jener Statuen bekam. Goethe hat sich oft freudig an diesen kurzen aber bleibenden Eindruck in Mannheim erinnert; es war sein Schlüsselerlebnis und von entscheidender Bedeutung für die weitere Entwicklung des Dichters. Als Beweise könnte man einige Stellen aus seinem Monumentalwerk angeben, wie z. B. in einem Brief von 1808 an seine Frau Christiane und Sohn August: "(...) Ich empfehle, ja ich trage es Euch auf, nach Mannheim zu fahren!" Oder vielleicht der berühmteste Hinweis der Wertschätzung für diese Stadt aus "Hermann und Dorothea" von 1798, im dritten Gesang: "Darum hab ,ich gewünscht, es solle sich Hermann auf Reisen bald begeben, und sehn zum wenigsten Straßburg und Frankfurt. Und das freundliche Mannheim, das gleich und heiter gebaut ist.

Denn wer die Städte gesehn, die großen und reinlichen, ruht nicht, Künftig die Vaterstadt selbst, so klein sie auch sei, zu verzieren." Welche Stadt hier gemeint ist, hat uns Goethe nicht verraten, sie bleibt sein Geheimnis. 1826 notierte Eckermann "(...) Da wollen sie wissen, welche Stadt am Rhein bey meinem Hermann und Dorothea gemeint sey! - Als ob es nicht besser wäre, sich jede beliebige zu denken! - Man will Wahrheit, man will Wirklichkeit und verdirbt dadurch die Poesie!"

Wir hörten von Herrn Dr Rings, daß auch der junge Goethe nicht so ohne weiteres auf die Bretter, welche die Welt bedeuten, kam; mit seinem Lustspiel "Die Mitschuldigen" erreichte er 1769 (also 20 jährig) nichts bei dem Mannheimer Publikum. Heute sei dieses Stück so gut wie vergessen, bis auf die Tatsache, daß in ihm die erste Erwähnung des "Doktor Faustus" zu finden ist. 1773 erfolgte ein neuer Versuch die Stadt zu erobern. Zusammen mit dem älteren Klopstock - etwa doppelt so alt wie Goethe - reiste der junge Dichter von Frankfurt in einer Kutsche Richtung Süden. Als Knabe hat Goethe die Oden Klopstocks verehrt. Klopstock wollte weiter bis Karlsruhe, aber Goethe stieg in der Quadratestadt aus. Während der Fahrt wird über vieles geredet; sicherlich sprudelnd und begeisternd erzählte der junge Goethe von seiner bereits in so jungen Jahren begonnenen Faustdichtung, heute als Urfaust bekannt. Vermutlich war das Puppenspiel von Dr. Faust dem Kinde Goethe vertraut, ferner kannte er auch schon früh das Faustbuch des Christian Meynenden. Es gibt eine Tagebuchnotiz eines Freundes namens Boie, wo im September 1774 vermerkt ist: "Sein Dr. Faust ist fast fertig und scheint mir das Größte und Eigentümlichste von allem." Dieses grandiose weltliterarische Werk mit seinen Themen des menschlichen Lebens zwischen Himmel, Erde und Hölle wird den Dichter sein ganzes Leben begleiten, ja über seinen Tod hinaus. "Faust II" erschien bekanntlich posthum 1833, nach dem Wunsch des greisen Dichters.

Herr Dr. Rings erzählte uns von der überaus produktiven Zeit um 1773/74, für den jungen, im Frankfurter Schöffengericht zugelassenen, Rechtsanwalt. Der Sturm und Drang in Goethes Werken und Wesen brachte in kaum mehr als sechs Wochen den Raubritter "Götz von Berlichingen" hervor, dann den "Werther", "Clavigo" und die Disposition zum "Egmont" u. a. Der schmale Band "Die Leiden des jungen Werthers" wurde vom gebildeten Publikum als ein spektakuläres literarisches Ereignis gefeiert; immer das großartige Thema vor Augen, nämlich den tragischen Zusammenstoß des Individuums mit dem notwendigen Gang des Ganzen. Goethe war 24 Jahre alt, und seinerzeit einer der bekanntesten Autoren in Deutschland. Sogar in den Akten des Mannheimer Stadtarchivs trat der Titel in der Form "Göthe Leiden Werthers" auf, basierend auf einer Verlassenschaftsakte eines Dr. Med. Leopold Frank, der den "Werther" zwischen seine Medizinbüchern stellte, so hörten wir vom Referenten.

Im Februar 1775 begab sich Goethe wieder nach Mannheim, diesmal hatte er geschäftlich mit Verlegern zu tun. Eindrucksvoll schilderte uns der Referent ein für die Quadratestadt folgenschweres Ereignis, denn der Dichter wäre fast ein "Mannheimer Buu" geworden. Es war die Rede von einer möglichen Einheiratung in die kurpfälzische Beamtenaristokratie; Verlobung mit Lili Schönmann im April und Lösung des Verlöbnisses im Herbst 1775. Literarische Zeugnisse dieses dramatischen Geschehens erfahren wir von Goethe selbst, nämlich aus dem 17. Buch in "Dichtung und Wahrheit". Aber während dieser Zeit erfolgten die ersten Begegnungen mit Karl August, dem Herzog von Sachsen-Weimar-Eisenach. Unwiderruflich zog es Goethe nun nach Weimar, um dort in Amt und Würde zu kommen. Wie wir wissen, verstand sich der etwa 10 Jahre ältere Goethe gut mit dem Herzog. Karl August verschaffte Goethe in respektvoller Freundschaft den Seelenraum, in welchem dieser sein Genie entfalten konnte. "Goethes Weimarer Zeit beginnt, Mannheims Traum zerrinnt", wie es Herr Dr. Rings trefflich ausdrückte. Auf der Rückreise von der Schweiz besuchte Goethe 1779 zusammen mit Karl August auf der Durchreise abermals Mannheim. Das Mannheimer Theater spielte ihnen zu Ehren "Clavigo". Noch zweimal, nämlich 1814 und 1815 besuchte der Dichter die Quadratestadt, nachweislich sein siebter und achter Aufenthalt in der Stadt. Während dieser Zeit fühlte sich Goethe zum Naturforscher berufen, den ersten Teil des "Faust" bereits seit Jahren abgeschlossen. Schiller, der ihn zum "Faust" unermüdlich ermuntert hatte, war schon längst tot (1805). Diese sogenannte erste Reise in den Rhein-Main-Neckar-Raum brachte Goethe natürlich auch nach Heidelberg, wo er mit Enthusiasmus die bedeutende Kunstsammlung der Gebrüder Sulpiz und Melchior Boisserée besuchte. Den Eindruck, den Goethe von diesen Bildern der Sammlung altflämischer und rheinischer Malerei empfing, war gewaltig: "Ach Kinder", rief er begeistert aus, "was sind wir doch dumm, was sind wir dumm! Das waren andere Kerle als wir, ja Schwerenot! Die wollen wir gelten lassen, die wollen wir loben und abermals loben! Die verdienen, daß Fürsten und Kaiserinnen, daß alle Nationen kommen und ihnen huldigen!"

In einem Brief an seine Frau Christiane schreibt er vom "regelmäßigen", vom "freundlichen", sowie "gleich und heiter gebauten Mannheim". Es war auch die Zeit, als die ersten Gedichte zu seinem Band "West-Östlicher-Divan" (Divan=Versammlung) entstanden. Ob die persischen Gedichte ihn während seiner nächtlichen Kutschfahrten in Südwestdeutschland inspirierten? Wir wissen es nicht. Ende September 1815 logierten Goethe und der Herzog das letzte Mal im "freundlichen und regelmäßigen Mannheim", und zwar wie wir hörten im Gasthaus "Zu den drei Königen" am Marktplatz. Was bedeutet Goethe für Mannheim? Wie wurden die verschiedenen Jubiläums- und Gedenkdaten, wie seine Werke rezipiert, so fragte der Referent. Nicht einmal eine Woche nach dem Ableben des am 22. März 1832 verstorbenen großen Dichters und Denkers gab es einen Hinweis in den Ausgaben der "Mannheimer Tageblätter". 1849 hatten Preußische Truppen in Mannheim Einzug gehalten und die Standgerichte waren im vollen Gange, trotzdem brachte das "gleich und heiter gebaute" Mannheim am 27. August 1849 zum 100. Geburtstag den "Faust I" auf die Bühne.

Das Goethejahr 1899 konnte in Mannheim elektrifiziert gefeiert werden, ein Generator auf dem "Schillerplatz" vor dem Theaterhaus beleuchtete die Goethe-Gedenkfeier. Es gab einen festlichen "Götz" und "Iphigenie auf Taurus". Und im Generalanzeiger von 1899 lesen wir vom damaligen Bürgermeister: "(...) daß wir in Mannheim uns mit gleichem oder größerem Recht als manche andere Stadt, in der Goethe sich zeitweilig aufgehalten hat, zu den sogenannten Goethestädten rechnen (...) dürfen." Mannheim bekam 1899 seine Goethestrasse bzw. Goetheplatz, auf dem das heutige Nationaltheater steht. 1932 (100 Jahre ist Goethe bereit tot) gibt Willy Birgel als Mephisto im "Faust I" sein bestes, und in der Neuen Mannheimer Zeitung lesen wir vielleicht deshalb: "Mannheim ist, was vielen unbekannt sein dürfte, nicht nur eine Schiller-, sondern auch eine Goethestadt". In Ansehung der furchtbaren Zeiten, die sich im Goethe-Gedenkjahr 1932 dunkel und deutlich ankündigten, finden wir die mutig gesprochen Worte aus einer Rede "Goethe und wir", des Autors Fritz Droop, die ich aus dem Beitrag "Die Quadratur des Goethe? Der Dichter und Mannheim" aus Badische Heimat, Heft 4, 1999 von Herrn Dr. Rings, zitieren darf: "Was die Deutschen heute von Goethe trennt, ist der vernichtende Hass, der die Parteien gegeneinander hetzt. Wohin kam Duldsamkeit und Menschentum? (...) Vor uns Chaos neuer Barbarei." Trotz aller Mißlichkeiten nach dem Kriege, feierte Mannheim 1949 seinen Goethe. "Mit Goethe zum Rhein" fand man auf Werbebroschüren, sogar in englischer und französischer Sprache. Diese Werbeschriften sollten wohl erzieherisch mit dem Namen Goethes auf das deutsche Volk wirken. In einem Schreiben an den Oberbürgermeister Fritz Cahn-Garnier (Badische Heimat, Heft 4, 1999) lesen wir: "Die internationale Anerkennung dieses großen Deutschen bietet eine neutrale Möglichkeit (...), die durch den Krieg hervorgerufene Ächtung alles Deutschen wirksam wieder wettzumachen." Sehen wir auf unsere heutige wertelose Kultur - nur noch überlebensfähig durch das globale Gleichgewicht von Konsum und Profit - so fallen uns vielleicht die von Dr. Rings ausgesprochenen berühmten Nietzsche Wörter ein: "Goethe - ein Zwischenfall ohne Folgen?" 1999 war der 250 Geburtstag des Herrn Geheimrats Johann Wolfgang von Goethe. Ist Mannheim eine Goethestadt? Lassen wir den Geist dieses großen Dichters wehen, wie sich der Redner ausdrückte, fernab von allen Kulturreden, indem wir auf einige letzte Worte des sterbenden Faust achten:

"Das ist der Weisheit letzter Schluß: Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, Der täglich sie erobern muß. Und so verbringt, umrungen von Gefahr, Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr. Solch ein Gewimmel möcht ich sehn, Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn. Zum Augenblick dürft ich sagen: Verweile doch, du bist so schön! Es kann die Spur von meinen Erdentragen Nicht in Äonen untergehn.- Im Vorgefühl von solchem höchsten Glück Genieß ich jetzt den höchsten Augenblick."

In jeder Stadt mag der Geist Goethes wehen, seine Schriften sind für alle verfügbar und so wird es weder einen Goethemenschen noch eine Goethestadt geben. Ich darf mit den Worten Dr. Rings schließen: "Auf dem Weg zur Goethestadt. Alles andere wäre ja auch gleichsam die "Quadratur des Goethe" - und die ist nicht mal in einer Quadratestadt möglich."

Ulrich F. Wodarzik

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11.15 -12.15 Uhr Ingeborg Hiel: Dichterlesung:

Die Autorin liest Lyrik und Prosa aus ihren Werken

Ingeborg Hiel sprach, ehe sie zu reden begonnen hatte: sie sprach durch ihre elegante, gefaßte Erscheinung, durch ihre sparsame Gestik, durch ihre Einstimmung auf die Lesung im Warten und im Vernehmen von musikalischen Eindrücken von Mozart. Dann der Beginn: kontrastierend setzt Ingeborg Hiel mit mehreren Texten aus dem Band "Daham is daham" ein, illustriert von dem bekannten Karrikaturisten Michael Murschez. Vordergründig jedoch nur heimattümelnd, in der Pointierung völlig fern jeder plumpen Volkstümelei, vielmehr stoisch-ironisch dieses Vorurteil augenzwinkernd auskostend, artifiziell reflektiert, die Bewohner ihrer steirischen Heimat jedoch immer liebevoll im Blick: die "Stoa-Steirer" - in Wien "gefürchtete" Grobiane und Hinterwäldler, wie es die Deutschen in Europa vielfach gelten.

Blickwechsel: "Ein Städter spaziert im Wald", ein Originalbeitrag, erst zwei Wochen alt: die Träume der Banalität, nicht hochmütig abgetan als "Wonnen der Gewöhnlichkeit" (Th. Mann), zwar durchaus ironisch dargestellt, doch immer das Kosmisch-Religiöse im herbeigesehnten Naturempfinden im Ohr. Achtenswerte Träume in der Unzulänglichkeit dieses Spaziergängers.

Aus dem ansehnlichen Erzählband "...und andere Zeitgenossen" wurden zwei Erzählungen vorgestellt - "Weises Hoffen" und "Salamander": glasklare Prosa, fiktiv, doch psychologisch zwingend und innerlich wahr: Der Schrecken vorweggenommenen blassen Todes, die Außenseitersituation der "alten Hexe vom 7-er Haus", bedrückend und echt die Not einer Unbedeutenden, absterbend Wissenden. Drei kurze Episoden, surreal im Charakter , aus der Erzählung "Egli era nato per la sua gloria, io per amar" aus dem eben genannten Erzählband folgten: "unbeantwortete Briefe", traurige Reflexionen über Sprache, über "mühseliges Entfalten der Flügel", über Kolibris, Schlange und Stachel der Rose, nein vielmehr über "Leben als Schatten der Liebe".

Nun folgten Gedichte aus verschiedensten Gedichtbänden der Autorin, vielschichtig, makaber, witzig und sanftmütig: "Die Sprache der Schildkröten", "Genügsam", "Stopptafeln deiner Jugend", "Bibelsanftmut", [...] und zuletzt "Ein Lächeln".

Der erste Vorsitzende dankte Frau Hiel : "Sie stehen in der Sprache selbst, die sich von innen her gestaltet. Aus innerer Sprachkraft - humboldtsch gedacht - gestalten Sie Welt in ihrer Vielfalt." "Wir verabschieden uns lächelnd von Ihnen", fügte Frau Prof. Höhl - die Lesung der Dichterin sinnig schließend - hinzu.

Wolfgang von der Weppen

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12.15 Uhr Schlußworte: Frau Prof. Dr. Gudrun Höhl

Den Gedanken des ersten Vorsitzenden zum Eingang der Tagung über Zorn, Heiterkeit und Ironie fügte Frau Prof. Höhl noch zwei weitere hinzu: den des Maßes, der Grenze, welche keine bloße starre Linie bedeute, und den der Verantwortung in der Freiheit des Gestaltens, des Empfindens, des Innehaltens. Dabei erinnerte sie an die vier Momente der Eigenzeitlichkeit: die techne, das bio-, das psycho- und das soziomorphe Denkmodell und schlug einen weiten Bogen in Vergangenheit der Sokrates- und der Humboldt- Gesellschaft zurück bis 1978, das Verhältnis von Geist und Natur als lebendige Beziehung begreifend als Ringen um das Sein, um das Menschsein.