6. Wissenschaftl. Tagung

Termin:
Freitag, 8. - Sonntag, 10. März 2002 im Hotel Wartburg

Programm

Patzer, Andreas, Prof. Dr., München:

Sokrates und Archelaos. Historische und fiktionale Texte über den jungen Sokrates

Früchtel, Edgar, Prof. Dr., München:

Sokrates bei Clemens Alexandrinus

Speer, Andreas, Prof. Dr. Würzburg:

Sokrates im Mittelalter (Sokrates als Typus und im Widerstreit von Weisheit und Philosophie)

Blum, Paul R., Prof. Dr.,Mönchengladbach:

Sokrates und die Renaissancephilosophie

Kaufmann, Eva Maria, M.A., Berlin:

Die Weisheit des Sokrates. Der Philosoph als Thema der bildenden Kunst

Weiß, Gabriele, M.A., Berlin:

Die sokratische Methode in der Pädagogik des 18. und 19.Jahrhunderts

Vonessen, Renate, Dr., Freiburg:

Sokrates widerruft. Valérys Dialog "Eupalinos ou l' Architecte'

Strässle, Thomas Dr., Zürich:

Sokrates und die Maske. Friedrich Dürrenmatts Umgang mit dem Sokrates-Stoff


Andreas Patzer:

Sokrates und Archelaos. Historische und fiktionale Texte über den jungen Sokrates

Wie läßt sich dem Fiktionalen das Historische abzwingen? Das ist die Frage der Forschung heute: die hermeneutische Relation zwischen Fiktion und Realität herauszuarbeiten, hier aufscheinend in einer philosophiegeschichtlichen Frage: wie soll das Verhältnis des Sokrates zur Naturphilosophie bewertet werden?

Die entsprechende Problemstellung wird spektakulär und exemplarisch zwischen dem jungen Sokrates und dem älteren Naturphilosophen Archelaos in strenger philologischer und historischer Analyse vorgestellt. Ion von Chios wird als dem ältesten historischen Zeugnis über Sokrates Platons Kition gegenübergestellt, wo es heißt: Sokrates habe die Stadt (Athen) nie verlassen. Weitere Texte werden in die Analyse einbezogen: die Wolken, der Phaidon, die Apologie, um der Problematik eines fiktionalen Paradigmenwechsel in einem sich immer wieder relativierenden Gegensatz fiktionaler Schreibweise zu einer historisch legitimen Beschreibung Gestalt zu geben.

Allein für Platon selbst kann solcher Paradigmenwechsel geltend gemacht werden (so etwa bezüglich des Phaidon und der Apologie, wobei beide Texte als fiktional anzusehen sind). Platon allerdings stellt Sokrates Anaxagoras in einer bloßen Fiktion gegenüber. Auch in seinem Panorama vorsokratischer Philosophie taucht Archelaos ebenso wenig auf, wie in dessen „Urschlamm-Zoogonie“. Aristoteles, der den Wandel von der Naturphilosophie in der Gestalt des Sokrates hin zu Ethik und Politik als die entscheidende Wende des griechischen Denkens ansetzt, erwähnt Archelaos ebenfalls mit keinem Wort. Erstmals zwei Schüler des Aristoteles: Theophrast und Aristoxenos bringen den Archelaos ein Jahrhundert später wieder zur Sprache.

Theoprast sieht das biologische Denkmodell der Entelechie von Archelaos angeregt und von Sokrates in der Ethik zur Blüte gebracht. Bei ihm wird jedoch ebenso wie bei Aristoteles ein Paradigmenwechsel von der Naturphilosophie (also auch von Archelaos her) hin zu Sokrates wohl kaum glaubhaft gemacht. Aristoxenos seinerseits - als Erfinder der antiken Biographie und Begründer der antiken Musikwissenschaft eine interessante Gestalt – ordnet die besagte Beziehung von Archelaos zu Sokrates einem rhetorischen Programm unter, welches in verschiedenen Schriften aufscheint. Allerdings erscheint im Fiktionalen der Gedanke, daß Sokrates zu Archelaos zumindest in einer geistige Beziehung bestanden habe, ein historischer Kern getroffen worden zu sein.

Ähnlich in den fiktionalen Bereich einzuordnen sind unter anderem die späteren Biographien, welche den Wandel des jungen Sokrates von einem unbedachten Lebenswandel hin zu gereifter Sittlichkeit paradigmatisch zu demonstrieren versuchten.

Eine besondere Bedeutung kommt den heterogenen „Geschichten“ über Sokrates bei Plutarch zu, wobei die Daimonion-Geschichten und die Orakel-Geschichte herauszuheben sind. Penibel werden alle nur denkbaren Varianten der Deutung im Hinblick auf die Fragestellung eingebracht und in die literarisch-fiktionale Kompositionsgeschichte der Sokratesbiographien eingeordnet. Eine besondere Rolle kommt der Einbringung der erotischen Komponente in den Texten zu, dient es ja häufig zur Denunziation einer Persönlichkeit bzw. zur Bewertung von deren ethischer „Wendung“. Hierzu wird besonders die Montage-Technik des Aristoxenos untersucht, der zwar gerne kompositorisch verkürzt oder abändert, doch im Kern stets auf eine „verläßliche“ Quelle zurückgreift. So kann mit Bestimmtheit vermutet werden, daß Aristoxenos im Rückgriff auf Ion zurecht nicht nur eine pädagogische, sondern auch eine erotische Beziehung des jungen Sokrates zu Archelaos ansetzt. Der Referent führt exkursorisch aus, daß im Blick auf die strengen Regeln der altgriechischen Pädophilie keinerlei Ähnlichkeit mit einer Homosexualität im modernen Sinne besteht. Mehr als dieses pädagogische und erotische Verhältnis zwischen dem jungen Sokrates und Archelaos verbürgt jedoch weder Aristoxenos noch Ion von Chios, auf welchen ersterer zurückgreift, nicht. Abschließend zeigt der Referent die Desiderate der Forschung in diesem Bereich auf unter Einbeziehung der fraglichen Lehrerschaft des Anaxagoras in Bezug auf Sokrates.

W.W.


Zum Seitenanfang

Früchtel, Edgar:

Einige Bemerkungen zum Sokratesbild bei Clemens Alexandrinus

Für Clemens ist das Christentum die einzig wahre Philosophie. Sokrates gilt ihm daher nur als Vorläufer dieser Welt und Menscheninterpretation. In der Philosophie der Griechen sieht er deshalb lediglich eine Teilwahrheit, weil die Griechen wie er argumentiert entweder durch Offenbarung oder durch Diebstahl ihr Wissen von den Hebräern bekommen haben. Sokrates ist aber deshalb, weil er ethische Werte gelehrt habe, gleichsam ein Wegbereiter der christlichen Moral. Im Daimonion des Sokrates sieht Clemens einen Schutzengel, der seinem Schützling göttliche Weisungen erteilt. Weil aber Sokrates in der Überzeugung eines ewigen Lebens und gleichsam im Gehorsam der ihm zuteil gewordenen göttlichen Wahrheiten starb, ist er für Clemens wie ein christlicher Märtyrer zu werten.

Zum Seitenanfang

Andreas Speer:

Sokrates im Mittelalter (Sokrates als Typus und im Widerstreit von Weisheit und Philosophie)

Die Gestalt des Sokrates dürfte dem Mittelalter so geläufig wie nur noch die des Julius Cäsar sein, dies allerdings in ganz spezifischer Hinsicht: nämlich als „exemplum Socratis“. Sokrates wird aus diesem Blickwinkel zu einer Urfigur wie etwa die des Sündenfalls. Er fungierte zunächst als Exemplum im Sinne der Schulbeispiele der Logik, da er - vermeintlich - der Beispiele bedurfte, um sich verständlich zu machen: der sog. „sophismata asinina“ nämlich, der sophistischen Eseleien. Dennoch wurde er freilich positiv gewertet. So auch als Exempel nicht nur für Lebensweisheit, sondern vielmehr noch für Lebensorientierung.

Sokrates wird einiges zugedacht: So etwa die „purgatio“, das Reinigungsmotiv. Wesentlich auch: Weisheit als Wissen aller irdischen und göttlichen Dinge, wobei freilich Sokrates nicht als „sophos“, vielmehr als „philosophos“ ausdrücklich gehandelt wird; schließlich dann auch: Sokrates als Wegweiser zum wahren Glück, dies gerade in seiner „contemptus mundi“, seiner Verachtung der Welt. Dies verbinde den Philosophen mit der Welt der Christen. Freilich gilt diese Wertschätzung des Sokrates nicht in jedem Falle uneingeschränkt: So wurde er auch etwa für seine Schwäche, geheiratet zu haben, mit Xanthippe bestraft, sozusagen als warnendes Beispiel für alle Philosophen.

So erweist sich alles in allem die Enkulturation des Christentums gerade in der Gestalt des Sokrates innerhalb eines griechischen und römischen Horizonts. Die Sokratesverehrung des Mittelalters belegt - entgegen dem bekannten Ausspruch Petrarcas - die ungebrochene Tradition der Antike, zumindest bis ins 12. Jahrhundert.

Ein Wandel der Bedeutung des Sokrates findet im 12. und 13. Jahrhundert statt, nachdem Aristoteles neu entdeckt worden war. Dies führt zu einer Neubewertung des Sokrates. Zwar wird er noch in der Moralphilosophie unter die Stoiker „als princeps stoicorum“ eingeordnet. So heißt es etwa bei Thomas im Sinne stärkerer wissenschaftlicher Ausrichtung, daß für Sokrates gilt, Wissenschaft könne nicht von der „Passio“ besiegt werden. Freilich tritt ab dem Hochmittelalter mehr und mehr die Spannung zwischen einer philosophischen Theologie (bei Aristoteles die prima philosophia) und der Offenbarungstheologie zutage, eine Spannung, die sich nicht harmonisieren läßt. Die neue Denkweise – Scheitelpunkt sind die Vorgänge in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts - läßt wohl auch Sokrates etwas in den Hintergrund treten. Der Bogen war weit gespannt: Johann von Salisbury kam ebenso zur Sprache wie Vinzenz von Beauvais , Abälard, Thomas von Aquin, Lullus und andere mehr. Ein Ausblick auf Nicolaus von Kues rundete das umfassende Gesamtbild der Erscheinung des Sokrates im Bewußtsein des Mittelalters ab.

W.W.


Zum Seitenanfang

Paul Richard Blum:

Sokrates in der Renaissance

„Es ist immer hilfreich, eine philosophische Epoche oder Strömung mithilfe eines Prüfsteins zu untersuchen, der das, was man darüber schon zu wissen meint, illustriert oder vielleicht sogar modifiziert. Als ein solcher Prüfstein eignet sich Sokrates, weil er an interessanten Stellen renaissancephilosophischen Denkens auftaucht“. Mit diesem Gedanken umreißt der Referent seinen Ansatz und füllt ihn vornehmlich im Blick auf zwei Autoren, die für den Typus des Renaissance-Denkens stehen: Gianozzo Manetti und Marsilio Ficino. Die Renaissance hat mithilfe der Entdeckung der griechischen Antike, ihrer Literatur, d.h. der Sprache den Menschen ins Zentrum des Interesses gerückt. Der Mensch selbst ist zum Fragehorizont geworden. Wissen wird solchermaßen zur Bildung.

Manetti, mit Alfonso I., König von Sizilien, zutiefst verbunden und diesen in seine Schriften gelegentlich einbeziehend, systematisiert diesen Gedanken in seiner Schrift von der„Würde des Menschen“. Der Mensch wird darin als Leib-Geist-Wesen gedacht und als solches als Einheit eines erkennenden wie handelnden Wesens bestimmt. In weiteren Schriften wird dieses „Programm“ der Renaissance umgesetzt, vielfach in Kompilation aller erreichbaren Quellen. Manetti schreibt auch eine „vita Socratis“, in welcher er Sokrates zugute hält, er habe die Philosophie vom Himmel geholt und unter den Menschen angesiedelt. Daraus habe sich auch der Vorrang der Ethik ergeben. Allerdings wird der Daimonion des Sokrates (vorsichtshalber?) als Schutzengel interpretiert. Solche Auffassung aber einer praktizierten Tugend wird vielfach, weit über Manetti hinaus, thematisiert: Sokrates als einer, der die innere Ruhe und Heiterkeit des Philosophen vertritt.

Ficino setzt demgegenüber etwas anders an: In der 1.Hälfte des 15. Jhd., in welcher verschiedene, höchst gegensätzliche weltanschauliche Ansätze z.T. kühnster Art vertreten werden, steht Ficino dem „Main-stream“ überkommener christlicher Lehre insofern bei, als er eine „Bestätigung des Christlichen durch das Sokratische“ als erwiesen sieht. Angelehnt an die „typologische Methode“ sieht er in Sokrates eine „Vorandeutung von Christus“. Das „Risiko dieser Apologetik“ besteht allerdings ungewollt darin, daß die Möglichkeit einer „Nachfolge Christi“ vor Christus angesetzt wird. Ficino ist hier weniger vorsichtig in solcher Parallelisierung als die früheren Humanisten, so etwa Saluti, ein Schüler Petrarcas. Die beiden offiziellen Kirchen nämlich (die Ostkirche und die Westkirche) warnen vor einer zu engen Affinität zwischen Christus und den antiken Vorbildern, so auch Sokrates. So betreibt Ficino in diesem Sinne eine Fiktionalisierung, ja eine Allegorisierung der Gestalt des Sokrates.

Im Kern jedoch bleibt es für die Zeit und für die späteren Epochen, wie der Referent in einem Ausblick andeutet, bei einem topischen Katalog sokratischer Tugenden: „Die praktische Lebensführung in der Nachfolge des Sokrates“ ist hierin immer wieder angesprochen. Zwei unterschiedliche Interpretationslinien werden abschließend herausgearbeitet: So etwa die „denunziatorische“ Deutung im Satyrspiel des 18. Jahrhunderts: im Zuge der Kritik an der Platonisierung des Christentums wird auch die Gestalt des Sokrates entmachtet: er sei zurecht verurteilt worden, sein „Nichtwissen“ wird zu einem Akt des Hochmuts erklärt. Stellvertretend wäre hierzu Charles Palissot de Montenoy mit seinem Dialog „Socrate et Erasme“ zu nennen. Die zweite Richtung wäre als historiographische Deutung zu bezeichnen: Mirandola hat wohl als erster solche historiographische Einordung des Sokrates in einen umfassend gedeuteten philosophischen Kontext vorgenommen.

W.W.


Zum Seitenanfang

Eva Maria Kaufmann:

Die Weisheit des Sokrates. Der Philosoph als Thema der bildenden Kunst

Alabasterstatuette des Sokrates, römische Kopie, London, British Museum

Schon in der antiken Kunst entstehen Bilder, an denen eine je spezifische Sicht deutlich wird. Während das älteste Bildnis die anstößigen Züge betont, werden diese in einem jüngeren Typus, der für die Präsentation in der Öffentlichkeit bestimmt war, gemildert. Eine hellenistische Büste spiegelt die stoische Philosophieauffassung, neuplatonisch geprägt ist die Darstellung eines Mosaiks aus dem 4. Jahrhundert n. Chr.

In der christlichen Kultur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit hat die antike Philosophie zunächst eine dienende, propädeutische Funktion für das Studium der göttlichen Offenbarung. Dies zeigt sich in einer Miniatur aus dem Hortus deliciarum (12. Jh.), aber auch noch im Bildprogramm Raffaels für die Stanza della Segnatura. In der Schule von Athen tritt jedoch ein neuzeitliches Philosophieverständnis in den Vordergrund. Platon und Aristoteles gelten als Erfüller des philosophischen Strebens und nehmen im Bild den zentralen Platz ein; der sokratische Tugenddialog, der nur über ethische Gegenstände, aber nicht über die Ursache des Ganzen handelt, ist als Vorläufer an den Rand gerückt. Die barocke Kunst zeigt Sokrates dementsprechend im Rückgriff auf antike Quellen als Vorbild in der Tugend: seine Besonnenheit und seine Aufforderung zur Selbsterkenntnis werden Bildthema. Später entstehen Zweifel am überlieferten Tugendverständnis. Auf einem Rokoko Gemälde wird Sokrates zu einem Störenfried, der Alkibiades bei einem Schäferstündchen überrascht und von Amor selbst zurückgedrängt wird.

Anselm Feuerbach: Das Gastmahl des Plato, 1869. Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle

In der Aufklärung gilt Sokrates zunächst als Verkörperung der Einheit von Erkenntnis- und Tugendstreben. Das Gemälde Der Tod des Sokrates von Jacques Louis David stellt ihn einen vorbildlichen Menschen dar, der durch seine (aufgeklärte) Vernunft die Schrecken des Todes überwindet. In Anselm Feuerbachs Gastmahl des Plato erscheint Sokrates dagegen nur noch als Vertreter einer reinen Geistigkeit, die mit dem sinnlichen Leben versöhnt werden muß. Johannes Grützkes Darstellung vom Tod des Sokrates aus dem 20. Jahrhundert vermittelt schließlich keine eindeutige Botschaft mehr, sondern verweist den Betrachter auf sich selbst zurück.

Johannes Grützke: Der sterbende Sokrates, 1975. Aachen, Neue Galerie, Sammlung Ludwig

Wer war Sokrates? Mit der Betrachtung der Bilder läßt sich innerhalb der einzelnen Epochen eine je vergleichbare Entwicklung feststellen: anfänglich steht Sokrates´ Weisheit im Mittelpunkt, später werden seine Tugend und Willensstärke starker herausgearbeitet. Schließlich tritt beides zurück zugunsten einer Resignation vor der menschlichen Fähigkeit zu Erkenntnis und zum Tun des Guten; es bleiben mystische Schau, Spott oder einfach nur ein distanzierter Blick. Doch wie verhalt sich Sokrates selbst zu diesen unterschiedlichen Interpretationen? Jenseits einer Vereinseitigung von Erkenntnisstreben und Tugendwillen und jenseits einer bloß skeptischen Haltung vertritt Sokrates im prüfenden Dialog eine Aufforderung zur Umkehr der eigenen Denkrichtung, ohne die weder wirkliche Erkenntnis noch wirkliche Tugend möglich sein durften.

Red.


Zum Seitenanfang

Gabriele Weiß:

Die sokratische Methode in der Pädagogik des 18. Jahrhunderts

Das Jahrhundert der Aufklärung wird gleichzeitig pädagogisches und sokratisches Jahrhundert genannt. Vergleicht man die Situation der Aufklärung mit der Zeit, in welcher Sokrates lebte, lassen sich Parallelen finden. Vor allem das Aufbrechen von Tradition, die Orientierung gaben und die Suche nach neuen Maßstäben für das Handeln sind charakteristisch für beide Epochen. Die Befreiung von den Gängelbändern der Vormünder und das autonome Denken und Urteilen bilden das Zentrum des pädagogischen Anliegens des 18. Jhdt. Der Sokratiker galt als Volksaufklärer, der mit seiner populären Art und Weise die Lehren der Wissenschaft für den Unterricht anschaulich und interessant macht.

Schon im Vorfeld der Aufklärung nutzte man die sokratische Bildungspraxis, um die gängige Lehrart das wortgetreue Auswendiglernen zu kritisieren. E. Weigel und Ch. Thomasius stellen das Verständnis der Sache gegenüber der wörtliche Wiedergabe in den Vordergrund. Verständnis sei gegeben, wenn der Schüler Rechenschaft über seinen Denk und Urteilsprozeß abgeben und Fragen zum Stoff beantworten kann.

In der Mitte des 18. Jahrhunderts wird dieses nun schon kritisierte bloße Nachfragen zur eigentlichen Maieutik, mit der dem Schüler seine eigenen Gedanken und Urteile entlockt werden soll. Dabei kommt es durch die Abgrenzung aber auch Verbindung von sokratischer Lehrart und Katechese (bei J. L. Mosheim, C. F. Bahrdt und F. M. Vierthaler) zu der Form von sokratischer Methode, die intendiert den Verstand zu leiten, den Dialog zu führen und Wissen hervorzubringen. Zwar soll der Schüler die Erkenntnis aus sich selbst hervorbringen, aber das, was die wahre Erkenntnis ist, wird von Lehrer gewußt und examiniert. Um den Schüler vom Unklaren zum Klaren zu führen, also um ihn aufzuklären, wird immer noch vorausgesetzt, daß ein Wissender einem Unwissenden gegenübersteht. Das Problem der Aufklärung ist die Degradierung desjenigen, den man mündig machen will zu einem Unmündigen. Daraus resultiert das pädagogische Paradox, daß man zur selbständigen Leitung seines Verstandes nur durch die Anleitung anderer gebracht werden.

Mit J. H. Pestalozzi und A. Diesterweg wird das Ende der Modezeit des Sokratisierens" eingeleitet. Vor allem letzterer macht darauf aufmerksam, daß es weniger darauf ankomme, den Schüler zu fragen, als vielmehr ihm etwas fraglich werden zu lassen.

Nimmt man Sokrates' Wissen um sein Nichtwissen und die Ablehnung der Lehrerrolle ernst, dann kann eine sogenannte sokratische Methode kein Wissen hervorbringen, sondern sie irritiert. Dennoch kann die sokratische Skepsis und Aporie pädagogisch wirksam sein. Eine so verstandene Entbindungskunst, befreit von dem Irrtum der Gewißheit in den Fragen der tugendhaften Lebensführung und entbindet ein rückhaltloses Denken.

Red.


Zum Seitenanfang

Renate Vonessen:

Sokrates – ein Widerruf . Valérys Dialog “Eupalinos ou l’Architecte”

Valérys Dialog “Eupalinos ou l’Architecte” wird als „Programmschrift“ des Autors angesehen, in welcher „Architektur“ als Grundfigur in dessen Denken aufscheint und Eupalinos als „imaginäre“ Gegenfigur zu Sokrates fungiert. „Architektur“ wir so zum Muster jeder Art von Gestaltung.

Der Text wir zunächst in das Gesamtwerk eingeordnet, dessen Entstehungsgeschichte vorgeführt. Der 1921 erschienene Text hat schon thematisch einen Vorläufer in dem 1891 erschienenen Essay „Paradoxe sur l´ Architecte“. Beide Texte sind 1927 (von Rilke übersetzt) im Insel-Verlag auf Deutsch erschienen. 1936 erst kommt der in diese „Reihe“ gehörende Text „Socrate et son médecin“ als dritter Dialog hinzu.

“Eupalinos ou l’Architecte” führt ein Streitgespräch zwischen Sokrates und Phaidros über Ewigkeit, Zeit und Vernunft vor, welches allmählich zum Stichwort „Architektur“ hinführt. Bei alledem sucht Valéry in seiner Aufnahme des platonischen Dialogs keine historische Treue oder philologische Genauigkeit, ja er kennt nach eigenem Bekenntnis Platons Schriften kaum.

So setzt er die Rolle des Sokrates im „Eupalinos“ auch recht frei an: Philosophen, so bedeutet er, malen keine wirkliche Welten, im Gegensatz zu den Architekten, welche real etwas zuwege bringen. „Bauen“ wird hier zur vollkommenen Tat, der Baumeister wird zum weltentwerfenden Demiurgen.

Das Prinzip der Selbsterkenntnis des Sokrates wird hier förmlich auf die Spitze getrieben, wenn er dem bestürzten Phaidros offenbart: er als Baumeister werde die Welten umwenden, so daß dieser heilfroh ist, daß Sokrates – sie besprechen sich ja in der Unterwelt – ein toter Baumeister ist.

Das, worum es hier geht, ist das freie Spiel der Phantasie: das Credo des modernen Künstlers, der nicht mimetisch vorgeht, wird hierin offenbar. Der bisherige Philosoph habe sich nämlich „dem Wort“ anvertraut, der Künstler als der eigentliche neue Typ des Philosophen setzt sich selbst im Gedanken der Konstruktion um. So erscheint Valérys Dialog “Eupalinos ou l’Architecte” als überragender Ausdruck des Zeitgeistes. Ein Blick auf den letzten Dialog in dieser Trias, auf „Socrate et son médecin“ rundet das Bild ab: Die Selbsterkenntnis des Sokrates – anders als bei Platon – scheitert an der Macht des kranken Körpers. Doch immerhin: die Forderung nach Selbsterkenntnis als solcher wird nicht in Frage gestellt, sie bleibt erhalten. Hierin kehrt Valéry in den Ursprung des Platonischen Sokrates zurück. Allerdings: die Erfüllung des hohen Anspruchs muß offen bleiben.

W.W.


Zum Seitenanfang

Thomas Strässle:

Sokrates und die Maske. Friedrich Dürrenmatts Umgang mit dem Sokrates-Stoff

Friedrich Dürrenmatt kommt in seinem Werk immer wieder auf Sokrates zu sprechen. Besondere Faszination übt dabei das sokratische Wissensparadox aus, durch das der griechische Philosoph als inverse Spiegelfigur zur Gegenwart Aktualität gewinnt: Sokrates steht als Fremdling in einer Zeit, die alles wissen zu können glaubt; denn das sokratische Wissen des Nichtwissens hat nach Dürrenmatt in der technologisierten Welt fatal umgeschlagen in das Nichtwissen unseres Wissens. Darüber hinaus ist Sokrates für Dürrenmatt insofern von Bedeutung, als sich um ihn herum ein Triumvirat gruppieren läßt, dessen Protagonisten die wichtigsten Aspekte von Dürrenmatts Denken verkörpern: der Philosoph Platon, den Dürrenmatt in erster Linie von dessen politischer Theorie her versteht, der Dramatiker Aristophanes, der in Dürrenmatts dichterischem.

Selbstverständnis als Ahnherr all derer figuriert, in deren Nachfolge er sich schreibend begibt, und schließlich der Gewaltherrscher und politische Praktiker Dionys. Diese auf die Figur Sokrates hin zentrierten Verstrebungen zwischen Philosophie, Ästhetik und Politik bilden auch den Ausgangspunkt einer Analyse des Prosastücks Der Tod des Sokrates, das sich in den Stoffen IV-IX, genannt Turmbau, findet und das ein Relikt eines nicht realisierten Dramenprojekts darstellt, mit dem Dürrenmatt sich nach früheren Ansätzen verstärkt Mitte der achtziger Jahre getragen hat. Darin wird eine Parodierung des tradierten Sokrates-Stoffes betrieben, durch die Platon zu einem erfolglosen und mißgünstigen Politpropagandisten verkommt und Aristophanes als gescheiterter Künstler an der Stelle des Sokrates den Schierlingsbecher trinkt. Auch die Versuche des Dionys, Sokrates zur Rechtfertigung des eigenen Machtmißbrauchs zu verwenden, sind zum Scheitern verurteilt, da Sokrates sich letztlich jeglicher politischer Instrumentalisierung seiner Person entzieht. In Dürrenmatts Parodie spielt insbesondere der Begriff der Maske eine tragende Rolle, der in der deutschsprachigen Sokrates-Literatur eine lange Tradition aufweist. Dieser Begriff lenkt die Aufmerksamkeit namentlich auf den Umstand, daß Sokrates von den verschiedensten Kräften für eigene Zwecke in Anspruch zu nehmen versucht wurde, sich dahinter aber als historische Figur versteckt hält. So führt das Possenspiel Dürrenmatts insbesondere zu Bewußtsein, daß Sokrates nur als Konstruktion gefaßt werden kann. Auch das Ende seiner Erzählung, die Rede Xanthippes im Amphitheater von Syrakus an der Stelle ihres Mannes, der beharrlich schweigt, ist noch dem Hang zur Inszenierung geschuldet, den Sokrates durch alle Zeiten auf sich gezogen hat.

Red.


Zum Seitenanfang