24. Sokratisches Treffen

Termin:
6../7. März 1999 in Mannheim, Wartburg Hotel

Programm


Berichte vom Samstag, den 17. März 2001


9.15 Uhr Eröffnung durch Universitätsprofessor Dr. Franz Vonessen

Prof. Vonessen begrüßte im Namen des Vorstandes die Mitglieder, Freunde und Gäste der Gesellschaft und fand wie immer den treffenden Sachansatz, jenseits jeder Äußerlichkeit gespreizter Festrednermanier. Er wies zunächst auf die tiefgreifenden Veränderungen in den letzten Jahren hin und ließ sodann den Funken sokratischen Denkens überspringen. Sokrates - so erinnerte er - stehe nicht nur als Urbild des Philosophen, sein Streben gelte katexochen als ´Liebe zur Weisheit´, dann aber auch als ´Liebe zur Philosophie´. Jener ganz eigene sokratische Gedanke, in dem der ´Anfang´ als die Hälfte des Ganzen apostrophiert wird, sei nicht vordergründig abzuklären, er sei - Aufgabe. Selbst Nicolai Hartmann habe das Problem des in jenem Gedanken involvierten Nichtwissens nicht erkannt, jenes Defizit auch, daß es nicht mehr die Philosophie, sondern Philosophien im Plural nur mehr gebe, nicht richtig eingeschätzt, heute dann aber: eine Fülle der Systeme, Systemtheorien, ´Postmoderne´ eben, das reine Chaos....

Dies nun sei die ständige Aufgabe: zurückzukehren in den Anfang. In Erinnerung an Whiteheads Pointierung, gemäß welcher die moderne Philosophie nur die Fußnote zu Planton ist, sei - um am Ganzen teilzunehmen -, zurückzukehren in die immerwährende Philosophie, in die philosophia perenis, dies im Gedanken daran, daß ´Tugend´ Wissen sei. Treffender ließe sich das Grundanliegen auch gerade der Sokratischen Gesellschaft kaum umschreiben.

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9.30-11.00 Uhr Univ. Prof. Dr. Nelly Naumann:

Das Menschenbild im frühen Japan

Dem Einleitungsvortrag kommt jeweils besondere Bedeutung zu. So zeigte sich gleich mit diesem ersten Vortrag, daß ein die Sokratische Gesellschaft umgreifendes Denken, wie es im Eröffnungsvortrag skizziert worden ist, kein bloßes Kreisen in sich selbst ist und sein kann, sondern immer Weltgestalt annimmt.

In diesem Sinne wurde von Frau Prof. Neumann der Gedanke der Einheit von Logos und Mythos an einem exklusiven Beispiel expliziert: das Menschenbild im frühen Japan vom Anfang im Mythos her. Exklusiv freilich mochte dies nur aus eurozentrischer Sicht erscheinen. Das Geheimnis von Distanz und Nähe wurde nämlich am Thema deutlich: So ferne diese Welt des alten Japan auch dem neuzeitlichen Europäer scheinen mag, so nahe ist hier dennoch auch immer das Allgemein-Menschliche. In ganz konkreter Form wurde dem fernen Mythos nachgegangen: Im Aufspüren der mythischen Zusammenhänge in den konkreten Forschungsergebnissen, im Verfolgen der Spuren des konfuzianischen Denkens etwa im höfischen Leben des frühen Japans, im Herrschaftsraum der Yamato-Könige.

Ausgehend von den japanischen Mythen, in welchen die Menschen - dies alles andere als anthropozentrisch - als ´Menschengras´ bezeichnet werden, wurden von Frau Prof. Naumann Mythos, ´Pseudogeschichte´ und Geschichte an der Darstellung der frühjapanischen Gesellschaft lebendig gemacht. Unter Auswertung der beiden ältesten Literaturdenkmäler Japans, dem 712 n. Chr. Entstanden Kojiki (Aufzeichnungen alter Geschehnisse) und dem von Kaiser Temmu in Auftrag gegebenen und 720 n. Chr. fertiggstellten chinesisch geschriebenen Nihongi (Annalen Japans) wurde die Denkwelt dieser Epoche vor Augen gestellt. Mythen, herrscherzentrierte Historie und pseudohistor. Herrschaftsrechtfertigung dringen hier wesentlich ineinander. Ist die philologische Auswertung dieser Quellen schon schwierig genug, so lassen die Tonfiguren aus dem frühen Japan, die des weiteren zur weiteren Aufhellung des Lebens und Denkens im frühen Japan herangezogen und im Bild vorgeführt wurden, mehr noch manche Frage offen, da über deren Bedeutung nichts überliefert ist. Jene Tonfiguren, die zum Typus der haniwa (`Tonringe´) gehören, welche die Hügelgräber der lokalen Machthaber zierten, finden sich ab dem Ende des 5.Jahrhunderts. In Lichtbildern zogen vornehme Damen und Herren, Krieger im Waffenschmuck., ja auch Bauern und unbekleidete Menschengestalten am Publikum vorbei und wurden auf je denkbare wissenschaftliche Deutung hinbefragt und zu einem ´Weltbild´ gerundet.

Frau Dr. Vonessen, die Moderatorin, bedankte sich für das Hineinführen in eine für uns zunächst befremdliche Welt und hob die Bedeutung des Vortrags als einem eindrucksvollen Beispiel für das Eindringen in die Mythen der frühen Kulturen hervor. Die Diskussion war lebhaft, die Fragen von Neugierde bestimmt: Sie führte von einfachen, treffenden Beobachtungen (so den auffällig schmalen Nasen; Frau von Saldern), für die es vielfach keine Erklärung geben konnte, über die Frage nach dem Zusammenhang der altjapanischen mit der polynesischen und altamerikanischen Kultur (v.d.Weppen), bis zur Deutung der Metapher des ´grünen Menschengrases´ (Symbol der Lebenskraft, der Vergänglichkeit? Prof. Vonessen) oder zu den Fragen von Prof. Schiele nach der Doppelspitze des Herrschers (Tenno: Kaiser, Schogun: Kriegsherr) sowie nach dem Einfluß Chinas auf die japanische Kultur.

Der Vortrag zeigte, daß das Denken das Detail nicht scheuen darf, daß das Wissen kein grobes Überfliegen sein kann, soll ein Ganzes entstehen. Wissenschaft als Erfassen von Wissen kann dies nur durch Welt hindurch.

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11.15-12.45 Uhr Prof. Dr. Franz Vonessen:

Das Opfer der Früchte des Opfers

Prof. Vonessen rührte ein in der Gegenwart stark verdrängtes, jedoch eminent wichtiges Thema unter diesem originellen Titel an, ist doch die Leugnung der Notwendigkeit des Opfers nicht nur im hedonistischen Dunstkreis zeitgenössischen Konsumdenkens eine Selbstverständlichkeit, sondern auch in christlichen Gebreiten zu finden, wie der Referent unter Hinweis auf Vortrag und Diskussion zu dieser Thematik in Bethel akzentuierte: Durch Christi Opfer bedürfe es keines Opfers mehr.

Der Mensch aber werde ohne Bereitschaft zum Opfer zum ´Egomonster´, ja umgekehrt - wie Leopold Ziegler begreiflich machte - zur recht verstandenen Selbstverwirklichung gehöre letztendlich auch das Opfer, wolle man nicht den Weg von einer Abhängigkeit in die andere mißverständlicherweise als Selbstverwirklichung begreifen. Nicht nur Beispiele falsch verstandener Emanzipation belegten dies. Die Opferthematik als solche wurde in weiten Bereichen schon intensiv ausgearbeitet. So kennt die katholische Welt eine ausgeprägte Ritualistik (Lehre vom Opfer). Eine Lehre vom Opferbetrug dagegen findet sich kaum und dies, obgleich mannigfache Beispiele aus der Mythologie und der Geistesgeschichte hier zur Verfügung stehen: das Opfer des Prometheus, die Diskussion über das Opfer in Platons Euthyphron, in welcher Sokrates ironisch die Bestimmung des Opfers als Kunst des Handelverkehrs (!) mit den Göttern aus Euthyphron herauslockt, jene Art von Glauben, den Kant ´Lohnglauben´ oder ´Knechtsglauben´ nennt, wie er dies an einer Fabel des Phaedrus expliziert hat u.a.m.

Was besonders auffiel, war die überraschende Pointe, welche Vonessen jeweils einem Beispiel, einer Metapher abzugewinnen vermochte, ganz gleich, ob das Opfer des Prometheus in der Theogonie Hesiods als Opferbetrug par exemple oder die Geschichte des Säufers Hannes expliziert wurde, der sich den Besuch des Wirtshauses als ´ehrlich gemeinte´ Belohnung für seine vorübergehende Abstinenz verdient hatte. Das, was in der angesprochenen Geschichte, im Mythos, in der Anekdote so scheinbar bloß ´beiherspielt´ wurde durch den Referenten in unnachahmlich ernst-leichter Weise jeweils intensiv mit der inneren Sachlogik in Einklang gebracht.

So zeigte sich, daß das Opfer gewiß als Grundbestand des Religiösen bestimmt werden, ja als Grundgegebenheit des Menschen schlechthin begriffen werden muß, daß aber dagegen der Opferbetrug ein verrechnendes Denken zum Grunde hat, welches jeweils schon dadurch, daß es - bewußt oder ´unschuldig´ - das Opfer zu ´Handelszwecken´ mißbraucht, dieses letztlich aufhebt; Varianten hierzu gibt es viele; schon im Gelübde kann solcher ´Betrug´ in subtiler Form anwesend sein: erst die Leistung, dann der Dank.

Das ´stolze´ moralische Bewußtsein aber, daß man soeben ein Opfer gebracht hat, daß man immer wieder schwerstem Opfer sich ausgesetzt hat, muß sich selbst preisgeben, muß sich selbst ´opfern´, da sonst gerade in solcher Selbstgerechtigkeit das Opfer selbst vernichtet würde. Erfrischend der Hinweis auf Theresia von Avila, die beim Genuß eines Rebhuhns ertappt und auf ihre asketische Fastenbereitschaft angesprochen, vergnügt gesagt haben soll: ´Fasten ist Fasten und Rebhuhn ist Rebhuhn´. Nur der Pharisäer ist bereit zum Opferbetrug. Die lebhafte Diskussion über die Opferthematik, wie sie z.B. von Walter Burkert geführt worden ist, sowie über Fragen nach dem ´richtigen Opfer´ oder über den Zusammenhang von Opfer und Verzicht u.a. ´belohnte´ den Referenten für seine mit hintergründiger Heiterkeit vorgetragene ethische Bewußtmachung des Opferproblems, dessen Einbeziehung ins tägliche Leben freilich, wie Vonessen betonte, jedem selbst überantwortet bleibt.

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15.15-16.45 Uhr Dr. rer. nat. U. F. Wodarzik:

Das Körper/Geist-Verhältnis und die Grenzen der Naturphilosophie. Eine verständliche Darstellung der Kantschen Dialektik der Vernunft und von Problemen der modernen Physik.

Das Thema gliederte sich in zwei Teile. Zum einen ging es um das Geist-Körper-Verhältnis, zum anderen um die Naturphilosophie und ihre Grenzen. Beides aber wurde von einem kompetenten Physiker auf Kantscher Basis entwickelt. Wie Prof. Kessler zurecht im Anschluß an das Referat betonte, konnte es wohl kaum eine bessere Basis geben. Der Untertitel wurde insofern wohl nicht ganz verifiziert, sofern man den philosophisch nicht geschulten, in Dingen der Physik nur allgemein bewanderten Zuhörer im Blickfeld hat. Aber kann und soll denn alles didaktisch zurechtgebeugt sein und werden? Wesentlich scheint: hier sprach ein betroffener, ein philosophisch betroffener Geist, der Wahrheit und Wirklichkeitserfassung im Blick hatte.

Freilich: Ein schwieriges Thema wurde angegangen, ein Problem, das viele Rätsel aufgibt und unterschiedlichste Antworten evoziert hat. Das Geist-Körper-Verhältnis: Ist es polar zu denken? Ist es als letztlich monistisch angelegt zu deuten? Schopenhauer hatte dies Problem als den philosophischen Weltknoten angesprochen, wie der Referent betonte. Dr. Wodarzik gab keine raschen Antworten, er setzte vielmehr im Durchgang durch die Philosophiegeschichte mit den beiden divergierenden Perspektiven von Rationalismus und Sensualismus ein, wie sie sich im neuzeitlichen Denken seit Descartes zugespitzt hatten, zeigte sodann aber im Rückgang auf Anaxagoras und die auf ihn folgende griechische Philosophie, daß mit Beginn des abendländischen Denkens das der Fragestellung immanente Problem der Subjektivität - und damit das Ringen um das Primat des Geistes - schon geboren war.

Entscheidend blieb jedoch für den Referenten, ungeachtet eines großen Umblicks über die jeweiligen Antworten zum Thema im Verlauf der Philosophiegeschichte - so etwa sehr schönen Hinweisen zu Platons Zwei-Welten-Theorie oder zu Spinozas psychophysischem Monismus - der Ansatz Kants: In der Überwindung des Gegensatzes von Sensualismus und Rationalismus durch Hereinnahme des Problems in den kategorialen Apparat des Subjektes: "Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung" (Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 158). Von Kants Ansatz aus wurden auch gewisse populär gewordene spekulative Thesen einer Physik in die Schranken gewiesen, welche über den prädikativen Aspekt der Physik (der streng seiner eigenen Gesetzmäßigkeit folgt) hinausgeht und einen konsistenten Aspekt einnimmt, um eine Unterscheidung, die Prof. Pietschmann in der Diskussion einbrachte, hier anzusetzen. Überzeugend stellte der Referent im Aufweis der grundlegenden methodischen Paradoxie resp. Antinomie, in der der streng wissenschaftliche Forscher wie der Forschende überhaupt steht, fest, daß Totalität zwar anzustreben, nicht aber zu hypostasieren sei. Nicht in der physikalisch beobachteten Natur ist jene Totalität nach Kant zudem zu suchen, sondern im Menschen und dessen innerer Gesetzlichkeit selbst. Zwar seien die über die strenge Physik hinausgehenden Spekulationen vielfach sehr fruchtbar gewesen, doch dürfe Physik und Metaphysik nicht verwechselt werden. Jene Paralogismen aber und Antinomien entstehen dann, wenn die physikalischen Interpretamente zu objektiven Gegenständen an sich interpretiert werden.

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17.00 - 18.30 Uhr: Univ.-Prof. Dr. Herbert Pietschmann:

Aufbruch in neue Wirklichkeiten

Mit wenigen markanten Linien führte Prof. Kessler in die exorbitante Originarität des Denkens von Herbert Pietschmann ein: In einem Zeitalter, das weniger als naturwissenschaftliches, denn als ein Zeitalter der Technologie begriffen werden muß, finden sich fachspezifisch je unterschiedliche Deutungen unserer Welt. Das Wunderbare an Pietschmann ist die fächerübergreifende Weltdeutung.

Herbert Pietschman gab mit seinem Vortrag ein Exemplum dessen, was von ihm unter dem Signum ´Konstruktiver Realismus´ in eine längst erstarrte wissenschaftstheoretische und wissenschaftsmethodische Diskussion äußerst belebend eingebracht worden ist. Man könnte es als einen umfassenden Ansatz einer Wissenssoziologie verstehen, wie sie weder Karl Mannheim noch Julius Schaaf unter den gegebenen Voraussetzungen möglich war und sein konnte. Einer Wissenssoziologie freilich, welche ganz bewußt den Balast einer Ideologieimplikation abgeworfen hatte: Nicht von einer intendierten Seinsbasis wird hier ausgegangen, sondern von einer dialektisch, d.h. wechselverwiesenen Sinnbestimmheit der Begriffe selbst. Solcher Verzicht auf streng philosophische Deduktion ermöglicht es dem Autor Pietschmann einer breiten Leserschaft Hilfen zu geben, wie er selbst betonte.

Hierzu ging Prof. Pietschmann jeweils vergleichend und unterscheidend von Begriffspaaren aus und kam zu vielfach verblüffenden Ergebnissen. Derlei Begriffspaare sind dichotomisch überall ansetzbar, sie entsprechen offenbar der dialogischen Struktur unseres Denkens. So etwa kennt der Computer das Begriffspaar: ´löschen - speichern´. Sein ´Denken´ ist freilich vom menschlichen Denken zu unterscheiden, welches vom Begriffspaar: ´erinnern - vergessen´ bestimmt ist. Bekannt ist das kontradiktorische Begriffspaar: Bürokratie - Produktivität. Das eine schließt hier das andere aus. An solcher Art des Umschlagens von zunächst als konträr Gesetztem in Kontradiktorisches setzt der ´Wissenssoziologe´ bzw. Kommunikations- und Wissenschaftstheoretiker Pietschmann an. Anhand mehrerer Folien wird der Sachverhalt erläutert:

Typisiert man etwa bestimmte Grundhaltungen bzgl. von Ordnung und Chaos, so ließe sich beispielsweise das Schema erstellen:

Vertreter der Einheit - Vertreter der Vielfalt; beide bekämpfen gewissermaßen ihre ´Schatten´. Schematisch ließe sich dies so darstellen:

´Schatten´   

Dies ergibt sozusagen das H-Modell.

Bekämpfen sich die jeweiligen Vertreter gegenseitig, so führt dies zu unfruchtbaren Unterstellungen: Vertreter der Vielfalt etwa unterstellen den Vertretern der Einheit ´Einfalt´.

´Schatten´  

Pietschmann nennt die neue, negative Konstellation die HX-Verwirrung.

Fazit: Nicht der gegnerische ´Schatten´ wäre zu bekämpfen, sondern vielmehr der eigene! Man kann sich denken, wie viele unfruchtbare, ja von feindlicher Gesinnung bestimmte Diskussionen erspart blieben, wenn dieser einfache Grundgedanke in die jeweilige Gesprächsführung einbezogen würde! Pietschmann läßt jedoch den kommunikativen Aspekt nicht als bloßes soziologisch bestimmtes Alltagsphänomen stehen, sondern bezieht derlei Grundkonstellationen in eine neue Wissenschaftstheorie mit ein, geht es doch um Wirklichkeitserfahrung und Realitätserfassung gleichermaßen.

Realität aber im Sinne von Pietschmann wird als ´das Gegebene´ bestimmt, Wirklichkeit dagegen als die Summe wissenschaftlicher Konstrukte. Letztere formuliert schon seit Galilei keine positiven Wahrheiten mehr, sondern schließt lediglich falsche Hypothesen aus. Solche doppelte Negation führt zu gesicherter Kenntnis, nicht allerdings zur ´Wahrheit´; ein Verzicht auf den Wahrheitsbegriff im Raum der Wissenschaft empfiehlt sich aus dieser Sicht. Diesem Gedanken implizit ist auch, daß jede Wirklichkeitsbestimmung nur vorläufig sein kann und des Wachsens und Veränderns bedarf. Hierin trifft Pietschmann eine bestimmte ideologisierende Auffassung von Naturwissenschaft im Kern, welche in der Behauptung, es gäbe nur Materie und keinen Geist, den von ihr ansonsten prononcierten Gedanken des Wachsens und Veränderns aufzuheben versuchte. Die Geisteswissenschaften wiederum bekämen aus der angesprochenen Perspektive heraus die neue Aufgabe, als ´Korrektiv´ Reflexions - resp. Selbstreflexionswissenschaft zu werden.

Pietschman dürfte etwas gelungen sein, was in der wissenschaftlichen Welt eher selten war und noch seltener heute ist:

Zum einen beherrscht er die Kunst der Plausibilität wie nur wenige. Damit ist gemeint: seine Veranschauungsmodelle sind einleuchtend, doch sie sind stets auch fundierte Denkmodelle, niemals bloß didaktische Spielereien. Zum anderen ist das Denken von Prof. Pietschmann darin äußerst innovativ, als er Grenzen, wo nur möglich, überschreitet. Nicht im ´nachträglichen´ Vernetzen von Vorgegebenem, wie der Gedanke der Ganzheit heute oft unfruchtbar angesetzt wird, sondern im Aufbrechen der vorgegebenen Kategorien, die meist nur dem gewohnten Orientierungswissen entsprechen. Der Widerspruch wäre in diesem Sinne nicht zu beseitigen, wie dies in ´klassischen´ Denksystemen gang und gäbe war, sondern vielmehr zulassen!

Wissenschaftstheorie und Kommunikationstheorie werden solchermaßen von Pietschmann in völlig neuer Form in eins gedacht.

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Berichte vom Sonntag, den 7.3. 1999

9.30 - 11.00 Uhr: Prof. Dr.- Ing. E.h. Otto H. Schiele:

Einige Anmerkungen zu verschiedenen Theorien des Alterns

In Ihrer Vorstellung des Referenten erinnerte Frau Prof. Höhl an den Vortrag vor 2 Jahren zum Thema ´mentale Arbeitsmedizin´ und damit in Zusammenhang an die Intensität der Beobachtungen, welche aus der Praxis der Erfahrung einer leitenden Tätigkeit heraus gemacht wurden und eine Forscherpersönlichkeit geprägt haben, welche höchste Achtung genießt. Diesmal ginge es speziell um verschiedene Theorien des Alterns, wobei sich die Hoffnung auf Anregungen für die Bewältigung der Alterung ohne vordergründige Ratschläge einholen werde. Prof. Schiele seinerseits bekannte, daß ihn das Thema der Arbeitsmedizin nicht mehr losgelassen habe. Gegenwärtig ginge es um die Vorbereitung eines Forschungsauftrages bei der deutschen Forschungsgemeinschaft, dem das alte wie das neue Arbeitsministerium zugestimmt habe. Seine Tätigkeit in zwei verschiedenen Gesellschaften zur Altersforschung eröffne ihm aus praktischer Sicht die Frage nach einer spezifischen tragfähigen wissenschaftlichen Theorie des Alterns dies, obgleich es ja verschiedenste Theorien gäbe. Für die Praxis freilich ergibt sich die einfache Formel, schneller an Jahren zu gewinnen als zu altern.

Was die Theorien betrifft, so ließen sich zwei große Gruppen herausschälen:

A. die stochastischen Theorien: zufallsbedingte Faktoren werden hier in Erwägung gezogen, die zwar statistisch faßbar, jedoch nur an der Häufung kenntlich sind.

B. die deterministischen Theorien: sie beinhalten die klare These: dann und dann ist das Alter fortgeschritten.

A. Einige Anmerkungen zu den stochastischen Theorien:

1.Ganz allgemein kann ´Altern´ zunächst als Effekt der Abnutzung, als ´Degeneration´ (ein Ausdruck, den der Referent ungern gebraucht) gefaßt werden. Dieser Ansatz ist fast nicht mehr gültig, auch wenn er - wie jede These - ein Körnchen Wahrheit beinhaltet. 2. Ein weiteres Modell, als ´Defektmodell´ gekennzeichnet, gilt als längst überholt. Es ging von Messungen des Hirngewichts aus und setzte die ständige Gewichtsabnahme in Relation zum Altern. Fehlerquote war etwa die Annahme, daß das Gehirn ein Milliarde Zellen umfasse; mittlerweile geht ,man von einer Billion Zellen aus. Solche Zahlenjonglierereien seien müßig, da - gleichwie - der tägliche Verlust von zehntausend Zellen bei derlei astronomischen Zahlen unerheblich sei. 3. Größere Bedeutung komme dagegen dem Dis-Issue-Modell, dem ´Nicht-Benutzungs-Modell) zu. Allerdings darf auch hier nicht zu linear gedacht werden: durch bloß forcierte Bewegung kann das Altern nicht verhindert werden. Pointiert ausgedrückt: "Jogger werden nicht älter, sie sterben nur gesünder." 4. Radikalen-Theorie des Alterns: die freien Radikalen (Atomgruppen mit freien Valenzen) führten zu nicht reparaturfähigen Elementen und sollten daher möglichst neutralisiert werden. Prof. Schiele machte diesbezüglich sodann detaillierte Ausführung über das Melatonin, einem Waschbecken für freie Radikale, und seine richtige Anwendung.

Mit Gewißheit kann gesagt werden, daß - gleich welcher der Theorien man den Vorrang gibt - Ernährung und Bewegung mit die entscheidenden Faktoren für ein Verlangsamen des Alterns sind. Die Redensart: "Der Mensch ist, was er ißt" kommt so nicht von ungefähr. Die Frage, um welche sich die ortho-molekulare Medizin bemüht, ist jedoch die Frage nach der jeweils richtigen Menge.

B: Einige Anmerkungen zu den Deterministischen Theorien:

1.Schon 1908 formulierte Prof Hobner die Stoffwechseltheorie, welche von Prinzinger dann wieder erneuert worden ist. Hobners These war es, daß das Lebensalter mit dem Gewicht korrespondiere. An diversen Tieren ließ sich dies verifizieren: von der Eintagsfliege bis zum Wal, der 80-90 Jahre alt wird. Gemäß diesem Modell wurde eine Art innerer "Stoffwechseluhr" angenommen. Die Folgerung hieraus, daß bei Stoffwechselbeschleunigung der Alterungsprozeß sich ebenfalls beschleunige, ließ sich in Rattenversuchen nachweisen. Ratten, die nur 60% des Futters parallel zur zweiten Versuchsgruppe bekamen, lebten 30% länger als die Parallelgruppe.

2. Die aufregendste jüngste Theorie war jedoch die Bindegewebstheorie, wie sie ab 1959 aus Amerika kam. Es zeigte sich in den Zellkulturen, daß Bindegewebszellen sich bis zu 50 Mal teilten und dann abstarben. Krebszellen (oder Keimzellen) dagegen sind als sich ständig regenerierend, als ´unsterblich´ einzustufen, sie haben die innere ´Alterungsuhr´ nicht.

3. Als letztes wies der Referent sodann auf die exorbitante Entwicklung der Hirnforschung hin, welche auch für die Theorie des Alterns zu sensationellen Ergebnissen führen werde. Vorläufig sei es jedoch wichtig, schon darüber nachzudenken, daß und inwiefern das biologische oder kalendarische Alter etwas anderes ist, als das psychologische Alter (´so alt, wie man sich fühlt´) oder das soziologische Alter (`so alt, wie einen die anderen halten´). Nicht fehlen durfte der Hinweis auf den Gedanken des ´funktionalen Alterns´. Sei das physiologische Alter grundsätzlich begrenzt, so könnten spezifische Beschäftigungsmomente den Faktor des Alters wesentlich beeinflussen. So wenig die Monotonie des Bild-Zeitungs-Lesers den Kurzzeitspeicher trainiert, so sehr wird der Alterungsprozeß durch intensive geistige Arbeit hinausgeschoben. Beleg hierfür ist das vielfach hohe Alter von Klaviervirtuosen oder Dirigenten. Doch auch eine ganz andere Blickrichtung verdiene die Aufmerksamkeit der Altersforschung: So erinnerte Prof. Schiele an das Volk der Hunza (Talschaft und Volk im Karakorum), das tief im Himalaya, fern jeder westlichen Zivilisation in Arbeit und Genügsamkeit lebe und keine Zivilisationskrankheiten kenne. Dessen Lebenserwartung reiche bis zu 145 Jahren. Freilich, so erinnerte der Referent bei allem Optimismus, der die Sache verdiente und den er persönlich auch ausstrahlte, an Goethes Hinweis, daß der Tod als Kunstgriff der Natur zu sehen sei, um möglichst viel Leben zu haben.

Wolfgang von der Weppen


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11.15 - 12.15 Uhr Dr. Wolfgang von der Weppen:

Der Spaziergänger. Lesung aus dem schriftstellerischen Werk.

Spaziergänge eröffnen neue und vertraute, bewußte wie unbewußte Eindrücke und können unseren Körper, unseren Geist und unsere Seele aus indifferenten Gefühlslagen zu Wohlgestimmtheit führen. So erging es uns bei der Lesung von Wolfgang von der Weppen. Wir wurden beim Spaziergang durch seine Werke "Der Spaziergänger", "Metaphysische Gedichte", "Viktorsberg", "Das verlorene Individuum" und aus Unveröffentlichtem vom Schauen in der Natur über die Erscheinung der Dinge hinausgeführt, um uns "dem durchgängigen Grund der Welt zu nähern bzw. uns auf diesen Urgrund zu beziehen.".

Beeindruckend, wie der Autor in feingesponnener Art und Weise Abschnitte unserer Lebenswelt in unserem Bewußtsein entstehen ließ: in leisen Schritten der Poesie, mit kritisch schweifenden Gedanken, traumhaften Vorstellungen und unmittelbaren kindlichen Reflexionen. Die Eindrücke des Spaziergängers sind vielfältig. Analog zog der Vortragende zum literarischen Wort optische und akustische Präsentationen hinzu. Die gesamte Aura eines faszinierenden Spaziergangs entstand. Im Text Angedeutetes fand Ergänzung im Bild, so wie das Dia aufnahmebereit machte für Hintergründiges im Wort. Der Bogen der Bilder führte vom ruhigen Quai und Brücke von Pontoise des Pissaro über den Ausdruck der modernen Selbstvermarktung im Running Man von Borofsky und dem Mann im Schneegestöber von Karl Walser zur sattfarbigen Römischen Fassade von Friederike von der Weppen.

Getragen vom Empfinden der Musik verinnerlichten sich die Impulse "Gehen und Warten". Auch im Bereich der Töne zeigte von der Weppen sein gefächertes künstlerisches Talent. Die zu Gehör gebrachten Stücke waren von ihm selbst komponiert, eigenhändig gespielt und auf Tonträger gebracht worden. Das Spektrum reichte von Jazzimprovisationen (über einen Dominantakkord D) bis zu einer Sonatine im klassischen Stil unter Einbeziehung spätromantischer Elemente, moderner Polytonalität und eines strengen Kanons im vorklassischen Stil.

Der Untertitel des "Spaziergängers" lautet: "Eine Gestalt, in der Welt sich vielfältig bricht". So war fürwahr dieses Erleben am Sonntagmorgen.

Günther Hildner


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12.15 Uhr: Schlußwort von Prof. Dr. Herbert Kessler

Prof. Kessler rundete wie gewohnt in einem besinnlichen Durchgang durch die ganze Tagung, griff den Gedanken des Spaziergang des zuletzt Vortragenden gewissermaßen auf, bedankte sich bei den Referenten und verabschiedete die Gäste.