29. Sokratisches Treffen

Programm


von der Weppen, Wolfgang, Dr., Wasserburg am Inn

Laudatio: Ehrung von Prof. Dr. Linus Geisler mit der „Goldenen Eule“

Prof. Dr. Linus Geisler, Gladbeck

Festvortrag zur Verleihung der Goldenen Eule: Der Mensch der Zukunft – aus der Perspektive der Medizin

Mattheck, Claus Prof. Dr., Karlsruhe

Design in der Natur – Der Baum als Lehrmeister

Harmening, Dieter Prof. Dr., Würzburg

Fliegen im Mythos. Vortrag mit Lichtbildern

Kaltenhauser, Johannes, und Vogel, Florian, Regisseure, München

Filmvorführung des mehrfach preisgekrönten Films: Jenseits der Ferne. Die stille Reise des Erfinders August Frommer

Holz, Harald, Prof. Dr. Bochum

Utopische Zukunftsentwürfe: Träume oder auch Alpträume !?

Verbeek, Ludwig, Schriftsteller, Bonn

Dichterlesung: Lyrik und Prosa


Das Sokratische Treffen im März 2005 stand unter dem Motto:

Traum – Utopie – Zukunftsentwurf.


Der Begriff der „Vision“ wurde bewußt nicht in das Spektrum einbezogen, da dieser Begriff als schlagwortartiger Modebegriff zu verwaschen und auch andererseits zu anspruchsvoll schien, erinnert man sich der Bilder im Bereich der religiösen Visionen, die als Erscheinungen, ja als Offenbarungen gedeutet werden (man denke hier nur an die Offenbarung des Johannes). Altkanzler Helmut Schmidt wird der Satz des nüchternen Pragmatikers zugeschrieben: Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.

Daß Träume nicht nur als Erinnerungsträume, in welchen Interessantes bzw. Unbewältigtes aufgearbeitet wird, zu nehmen sind, sondern auch Denkfiguren der Möglichkeit sind, dies kam auf dieser Tagung wesentlich zum Ausdruck. Der Begriff der Utopie ist in den letzten Jahren in Verruf gebracht worden, wobei der Begriff nur von seiner negativen Seite her bestimmt wurde, nämlich als Chimäre, als bloßes Hirngespinst. Der Utopist galt seinerseits als ein Illusionist, der nicht mit beiden Beinen auf dem Boden steht, als einer nämlich, der sich an den Realitäten vorbeimogelt. Unterschlagen wurde hier die positive Seite des Utopiebegriffs, nämlich der positive Gedanke des Zukunftsentwurfs. Ein solcher Zukunftsentwurf muß allerdings notwendigerweise in einem „Nirgendwoland“, in einem nicht realen Bereich angesiedelt werden, als solcher jedoch wurde er oft fruchtbar und geriet zum Segen der Menschen. Das 20.Jahrhundert freilich ließ uns dann die Schrecken von bis zum Ende und ohne Rücksicht auf den Menschen und seine endlichen Gegebenheiten durchgeführten Utopien erfahren. Dies ist die negative Seite des Utopiegedankens. Sein positiver Kern liegt jedoch darin, daß der Mensch als ein geschichtliches Wesen aus der Vergangenheit kommt und Zukunft vorwegnimmt. Zukunft zu haben bedeutet von daher die Möglichkeit und die Notwendigkeit, Zukunft zu entwerfen. Ohne diese Möglichkeit wäre der Mensch in stumpfer Weise auf ein bloßes, tagtägliches Dahinvegetieren verwiesen. Beide Gesichter der Antizipation von Zukunft bestimmten den Ansatz der Tagung.

Was jene Schrecken eines rücksichtslos umgesetzten Zukunftsentwurfs angeht, so zeigte der Festvortrag von Prof. Dr. Linus Geisler „Der Mensch der Zukunft – aus der Perspektive der Medizin“, daß trotz der allgemeinen Erklärungen, daß das utopische Zeitalter nunmehr endgültig zu Ende gegangen sei, so manche utopische Horrorvision noch lange nicht ausgestanden ist.

Ausgehend vom permanenten, weit in die Geschichte zurückreichenden Faszinosum einer „wissenschaftlichen“ Zukunftsschau, welche die notwendige, ständige Selbstbegründung des „offenen“, unfertigen Wesens Mensch zur Voraussetzung hat, führte uns der Mediziner Geisler atemberaubend an die Abgründe moderner Hybris heran, welche die Schaffung des „Neuen Menschen“ propagiert. Der Ethiker Geisler legte jedoch gezielt den Finger in die Wunde solcher gegenwärtiger „Ankündigungswissenschaften“, welche nicht nur ihre vagen Versprechungen nicht einhalten werden können, sondern das Bild vom Menschen als solches zu demontieren versuchen. Die Folgen der Weckung von Bedürfnissen im Sinne des sogenannten „technischen Imperativs“ sind für Geisler unabsehbar. Er führte uns in die dunkelsten und geheimsten Nischen, in die menschlichen Ersatzteillager, in die Umformgemächer der neuen Ganz-Körper-Industrie, aus einem reichen Wissen und einer bis zum Ende durchreflektierten Erkenntnis der Zusammenhänge. Grenzüberschreitungen, etwa in der Überführung der Transplantation in die Xenotransplantation als Durchbrechung der Barriere zwischen Tier und Mensch, „Menschenproduktion“ und anderes wurden beklemmend und faszinierend vor Augen gestellt. Abschließend forderte Geisler entschieden , den Menschen als „Grenznatur“, als unfertiges Wesen zu akzeptieren und nicht in einem wahren „Tsunami der Utopien“ untergehen zu lassen.

In seiner Laudatio führte der Vorsitzende der Sokratischen Gesellschaft vom Gedanken der Weisheit, des wahren Wissens hinüber zum herrschenden Zeitgeist, der den raschest umsetzbaren Nutzen in den Brennpunkt seines Handelns rückt, und stellte dem den sokratischen Denkansatz des Festredners gegenüber, der sich mit den Folgen solcher Hybris im Sinne einer medizinisch-ethischen Verantwortung befaßt, dies auch besonders in den Kontroversen im Rahmen der Enquête−Kommission "Ethik und Recht der modernen Medizin" des Bundestags. Von der Weppen kennzeichnete die Tiefe und Ernsthaftigkeit des forschenden Fragens von Linus Geisler als wahrhaft sokratische Durchdringung der anstehenden schwierigen medizinisch-ethischen Problematik. Hierbei auch besonders die Verkürzungen in Bildern und Schlagworten in einer schier sophistischen medialen Vermittlung aufzudecken und die Vermittler in die Verantwortung zu nehmen, könne als zusätzliches Verdienst Geislers gelten.

Prof. Dr. Claus Mattheck, Karlsruhe, führte uns auf seine unnachahmliche, lebhafte und anschauliche, mit dem Humor seiner sächsischen Heimat gewürzten Weise in seinem Vortrag „Design in der Natur – Der Baum als Lehrmeister“ glänzend vor Augen, inwiefern „Utopie“ positiv gedacht werden kann. Das Maß eines solchen sinnbestimmten vorwegnehmenden Denkens fand der Naturwissenschaftler, der Biotechniker Mattheck in der Natur selbst. Dieses „Maß“, d.h. die entsprechende Formel für die Haltbarkeit von physikalischen Strukturen ergab sich nach mühevollem Forschen und Ringen aus der jahrelangen Beobachtung der Wachstumsgesetze der Bäume. Dies brachte ihm nicht nur die liebevolle Titulierung als „Baumflüsterer“ ein, sondern 2003 den hochangesehenen Umweltpreis der Bundesrepublik. Seine Beobachtungen jedoch dienten gleichermaßen dem Umweltschutz wie auch der Erhöhung des Stabilitätsfaktors in Produkten von Industrie und Handwerk. Was ersteres betrifft: manches voreilige Fällen von Bäumen, die als gefährlich galten, konnte durch seine Methode des "Visual Tree Assessment" vermieden werden. Als Beispiele aus der Industrie könnten genannt werden: Tragende Teile in Autos ließen sich aufgrund der Forschungsergebnisse von Claus Mattheck erheblich vom Gewicht her reduzieren. Doch auch etwa absichtlich produzierte oder einfach fahrlässig zugelassene Sollbruchstellen bei Gerätschaften konnten nach seiner Formel nunmehr rasch aufgedeckt werden. Matthecks Formel ist für den Fachmann einfach handhabbar und kann von kleinsten Betrieben kostengünstig und zum Wohle des Käufers angewendet werden. Claus Mattheck ließ sich in seiner begeisterten und begeisternden Darstellung der Zusammenhänge in keiner Weise irritieren, als der Diaprojektor ausfiel, und setzte seinen Vortrag mühelos improvisierend im Tafelbild fort, um am Schluß noch einige seiner didaktisch geschickt verfaßten Bücher über die Sprache der Bäume (auch für Laien oder Kinder sehr geeignet) vorzustellen (z.B. den Wissenschafts-Cartoon „Warum alles kaputt geht“). Der Applaus des Publikums war dem Referenten gewiß.

In eine ganz andere Welt, die nur über den Gedanken des vorwegnehmenden Entwurfs mit den vorangegangenen Vorträgen verbunden war, führte uns der Würzburger Prof. Dr. Dieter Harmening, einer der wohl bedeutendsten Aberglaubensforscher des Landes. Manchem ist er durch seine Vampirforschungen und seinen keineswegs ehrenrührigen Beinamen „Hexenprofessor“ bekannt. Auch dieses Thema des Fliegens war den Zuhörern vertraut und doch exklusiv. Wer hatte nicht schon einmal vom Fliegen geträumt oder ist im Traum mehr oder weniger erfolgreich „geflogen“? „Fliegen“ könnte gewissermaßen als Archetypus gelten...

Was Harmening nun in einer knappen Stunde anhand von Beispielen in Lichtbildern zum Thema „Fliegen im Mythos“ einbrachte, hätte monatelanger Recherchen in Spezialbänden und Quellen bedurft, was dieser offensichtlich seinen Zuhörern in mühevoller Kleinarbeit abgenommen hatte. Harmening durchwanderte die Jahrhunderte und zeigte das dichte Geflecht fliegender Gestalten in den antiken wie christlichen Quellen als Zeugnisse der „Einbildungskraft“ des Menschen kenntnisreich und detailsicher auf. Er brachte auf diese Weise die Erkenntnis mit ein, daß die Selbstübersteigung des Menschen, das phantasievolle, ja oft phantastische Transzendieren seiner alltäglichen Gegebenheiten, kein Privileg modernen, „utopischen“ Denkens ist, sondern im Mythos und in der Religion in historischer Zeit belegt ist. Er verlieh der Tagung einen Akzent, ohne welchen diese ärmer gewesen wäre.

Schön klang der erste Tag des Sokratischen Treffens mit der Filmvorführung des vielprämierten Films „Jenseits der Ferne. Die stille Reise des Erfinders August Frommer“ der beiden Nachwuchsregisseure aus München, Johannes Kaltenhauser und Florian Vogel, aus. „Jenseits der Ferne“, – dies ein Film von so höchster Sensibilität und formaler Brillanz, eine „einfache Reportage“ scheinbar, ein kurzer Sachfilm also, ein Kurzfilm von über 20 Minuten, und doch ein poetisches Kunstwerk von höchstem Rang, ein Kunstwerk, welches nicht nur die Achtung vor dem Unscheinbaren ausstrahlte, sondern ebenso die scheinbar sinnlose Lebensbestrebung des Protagonisten zum grundlegenden existentiellen Ausdruck des ein Leben lang suchenden und irrenden Menschen werden ließ. Die Geschichte ist schnell erzählt: Ein alter Mann, tief gebeugt, ist sommers wie winters mit dem Fahrrad im Umreis seines Heimatorts Wasserburg am Inn unterwegs, über Jahrzehnte hinweg, um nach Gerätschaften, Drähten, Schaltungen zu suchen, mit deren Hilfe er einen uralten Traum der Menschheit verwirklichen will: das Perpetuum mobile. Das Haus des Vaters, welches er allein bewohnt und wo er in einer kleinen Kammer, die ihm Wohn-, Arbeits- und Schlafraum ist, ist vollgestopft mit Materialien, die seinem Lebenswerk, das Perpetuum mobile, dienen. Freilich, dies lockt dem Fachmann ein Lächeln ab. Doch ist es hiermit vielleicht so ähnlich wie mit dem Opernsänger, der minutenlang theatralisch seinen nahen Tod besingt. Auch dieser mag belächelt werden. Franz Kafka jedoch wendet ein, daß wir doch auch unser Sterben vorwegnehmend besingen, und zwar ein Leben lang. Der Opernsänger gibt dem nur symbolischen Ausdruck. Solchermaßen aber auch wurde in „Jenseits der Ferne“ der Irrtum eines einfachen Mannes symbolhaft für das menschliche Streben, für sein Verurteiltsein, einem Ideal, einer Fiktion, einem Traum nachzujagen. Die lebhafte Diskussion mit den beiden Regisseuren nach der Vorführung des Films brachte interessante Einblicke in die allgemeinen Probleme des Filmens, in die Vorgeschichte der Entstehung des Films sowie in die existentiellen Probleme des „Erfinders“ August Frommer, dessen Darstellung in der hinreißenden Verfilmung schlichtweg ergreifend war.

Prof. Dr. Harald Holz brachte anderntags aus philosophischer Perspektive das Doppelgesicht des utopischen, in die Zukunft gerichteten Weltentwurfs schon allein im Titel zum Ausdruck: „Utopische Zukunftsentwürfe: Träume oder auch Alpträume !?“. Er spezifizierte das weite Themenfeld wohltuend begrenzt auf die heilsgeschichtlichen Zukunftserwartungen der großen prophetischen Religionen. In einem knappen und präzisen geschichtlichen Aufriß schärfte er den Sinn für die einzelnen Positionen innerhalb dieser Weltreligionen und brachte dabei Akzente ein, die auch für den, welcher die Dinge zu kennen meinte, die Zusammenhänge und kryptogamen Strukturen schärfer konturierten. So etwa fanden sich klärende Einblicke in den Gedanken der heilsgeschichtlichen Auserwähltheit im Judentum (welcher Missionierung eigentlich ausschloß) oder auch in das Problem des Fundamentalismus (wie er in allen drei monotheistischen Religionen seine Entsprechung hat), der überall gleichermaßen auf eine wörtliche Auslegung der Schriften rekurriert. Auch der Einblick in die eschatologischen Strukturen im Katholizismus wie im Protestantismus (besonders in der sog. Erweckungsbewegung) war äußerst überzeugend und abklärend. Im zweiten Abschnitt des Vortrags brachte Holz eine Zusammenschau der Problematik im Hinblick auf einen Kampf „um die alleinige und damit auch totale Weltbestimmung“. Abschließend hielt der Referent entschieden den Gedanken umfassender vernunftbestimmter Denkungsart als conditio sine qua non für sinnbestimmtes Handeln jeglicher Artikulation von Fundamentalismus entgegen. Was die im Vortrag angesprochenen religiösen Utopien betrifft, so ließ Holz allerdings keinen Zweifel daran: Sie sind wohl eher Alptraum denn Traum.

Eine bessere Abrundung des Tagungsthemas als durch eine Dichterlesung eines Autors vom Range eines Ludwig Verbeek hätte man sich kaum wünschen können. Dichtung auch ist zudem jeweils immer schon mehr als Abbildung gegebener Realitäten, sie bildet Ideen ab, führt Entwürfe vor, läßt gedachte wie reale Welten aufscheinen und ist per se immer fiktional. Verbeeks Lyrik ist wie seine Prosa von einer so einleuchtenden Einfachheit, ja gewissermaßen Selbstverständlichkeit, daß seine Sprachkunst leicht übersehen läßt, welch innere Verdichtung des Gedankens und der Empfindung sich in seinen Werken anzeigt. Verbeek scheut so wenig innere sprachliche Verdichtungen wie er irgendwelchen Themen ausweicht. Eine breite Palette läßt sich hier ausbreiten: Liebe, Politik, Zeitkritik, Metaphysik, Philosophie, Naturbeobachtung und auch die Sprache selbst werden thematisiert. Es gelingen ihm dabei immer wieder plastische Wortschöpfungen und überraschende Neologismen. Sein Schaffen ist eingespannt zwischen scharfer Beobachtung der Welt, der Gesellschaft, der Epoche und deren Tendenzen auf der einen Seite und tiefer Innerlichkeit und Transzendenz auf der anderen: „Der Ursprung, der nicht im Affen lag, sondern in den Göttern“...

Verbeek trug seine Gedanken und sprachlichen Bilder einprägsam und nachdenklich vor, wobei ihm ein einfacher Kunstgriff verblüffend zu Hilfe kam: Nach kurzer Pause las er dasselbe Gedicht nochmals vor. Die wenigen nachstehenden Gedichte Verbeeks können bestenfalls Erinnerungsanstoß an diese Lesung sein, keinesfalls auch nur deren verkürztes Abbild. Deshalb sei hier nachstehend eine kurze Biobibliographie zum eigenen Nachlesen vorgestellt, zumal durch einen technischen Fehler bedingt, die Angaben im Faltblatt unvollständig waren.

Die Redaktion