27. Sokratisches Treffen

Termin:
8. /9. März 2003 in Mannheim, Hotel Wartburg

Viele der ca. 60 Teilnehmer bestätigten es wiederholt: Eine besondere Harmonie verband die Anwesenden von Anfang an – Vortragende wie Zuhörer. Ob es an den Themen lag, an der Art, wie sie dargebracht wurden, an der Ausstrahlung der Referenten, an dem außergewöhnlichen Engagement der Zuhörer in den Aussprachen, an der sympathisch-zugewandten Art, wie der Erste Vorsitzende Dr. von der Weppen durch die Tagung führte? Es hat wohl jeder etwas zu diesem „sokratischen Funken“ beigetragen, der so oft übersprang und auch den späten Samstagabend als spontanes Symposion zu einem geistvollen Erlebnis werden ließ.

Im folgenden soll nur ein kurzes Stimmungsbild dieses fast familiären Treffens gegeben werden. Die Inhalte der Vorträge entnehmen Sie bitte den entsprechenden Kurzfassungen.

Der Erste Vorsitzende eröffnete die Tagung mit einem Gedenken an unsere Verstorbenen Mitglieder , zu dem sich alle Anwesenden erhoben. Sodann trug Herr Dr. von der Weppen eine brillante Laudatio auf unser neues Ehrenmitglied Dr. Erich A. Weilbach vor, in welcher so manchem Zuhörer erst bewußt wurde, was für eine Persönlichkeit dieser Mann ist, der so ganz bescheiden im Hintergrund für unsere Gesellschaft seit ihrer Gründung mit großem Erfolg gearbeitet hat.

Nachdem der Vorsitzende Herrn Dr. Weilbach mit einem stattlichen Blumenstrauß geehrt hatte, überreichte er Frau Kessler als Dank für ihr unermüdliches Engagement einen Strauß roter Rosen, was mit anhaltendem Beifall anerkannt wurde.

Vielseitigkeit und eine außergewöhnliche Bildung bezeugte Herr Dr. Weilbach nun in seinem Festvortrag: „Wissenschaft und Weisheitslehre in der gegenwärtigen Ökonomie." Die rege Aussprache machte deutlich, daß der Redner in seinem Vortrag in Dimensionen vorgestoßen ist, die den Bürgern unseres Staates und insbesondere den Politikern in ihren komplexen Zusammenhängen und vor allem in ihren Auswirkungen auf das wirtschaftliche Wohl eines Staates nicht vertraut sind.

Herr Professor Dr. Gierndt brachte die Herzen nicht nur der Schöngeister zum schwingen, wenn er in seinem Thema „Wider den Zeitgeist – die idealistische Sicht der Dinge“ so vielen aus der Seele sprach, indem er die idealistische Philosophie – dabei vor allem Fichte, Kant und Hegel – in die technisierte Gegenwart ohne Werte projizierte und im Spannungsverhältnis zu Nietzsche zu neuer Aktualität belebte. Auch hier wurde die lebhafte Aussprache am Abend an der Tafel bis in vorgerückte Stunden weitergeführt.

Herr Professor Dr. Königshausen hat mit seinen überaus lebendig vorgetragenen Forschungsergebnissen wohl für die meisten Zuhörer Neuland betreten, wenn er in seinem Thema „Thematischer Gehalt und dramatisches Geschehen im platonischen Dialog“ gerade denjenigen Stellen in den Dialogen Platons besondere Bedeutung zumaß, die, scheinbar nebensächlich, Beschreibungen äußerer Umstände bei den Gesprächen geben; sei es, daß die symbolische Bedeutung eines Ortes, an dem sich die Gesprächspartner treffen, entscheidende Aussagen zum Hintergrund des jeweiligen Gespräches bieten, sei es daß eine Nebenbemerkung zum Verhalten einer Person, z. B. das Erröten, Hinweise liefern. So drehte sich die Aussprache immer wieder um die Frage, in wieweit jene Dialoge den Charakter von Dramen tragen.

Die Reihe dieses Tages wurde beschlossen mit einem speziellen Thema, von dem man unter normalen Umständen glauben könnte, es würde nur fachlich Interessierte ansprechen: „Docta ignorantia. Zur Künstlerästhetik Sergiu Celibidaches“. Herr Dr. Thiemel , der freundlicherweise kurzfristig für Herrn Prof. Dr. Geisler eingesprungen war, gewann durch seine freundliche Ausstrahlung im Handstreich die Herzen des gesamten Auditoriums. Während der Aussprache wurden Stimmen der Verblüffung laut, welche Anziehung für ein scheinbar außerhalb des eigenen Interesses liegendes Gebiet durch die Persönlichkeit eines Referenten geweckt werden kann.

Den Sonntagmorgen leitete Herr Dr. Stephenson ein mit seinem Thema: „Kunst als Religion. Gedanken zur ästhetischen und religiösen Wahrnehmung.“ Der Redner breitete vor seinen Zuhörern aus, welche Breite und Tiefe des menschlichen Gemüts durch Betrachtung des Schönen oder Ergreifenden in Bewegung versetzt werden kann. Die vielseitige Beleuchtung seines Themas – eine Philosophie der Kunst – bedeutete für manchen Zuhörer eine beachtliche Bereicherung seines Kunstverständnisses. Fast ungewollt stellte Dr. Stephenson die Frage nach einer gemeinsamen menschlichen Konstante der Schönheit in der Kunst. Eine Frage, die gerade ohne ihre Beantwortung das Nachdenken anregen mußte, was die Aussprache bewies.

Zum Abschluß der Tagung vermittelte Frau Hannelie Schmitt in einer Serie ungewöhnlich ansprechender Dias den Teilnehmern „Gesichter Japans – Gärten, Tempel, Landschaften“. Wenn die Referentin auch aus Gründen der Objektivität einen Seitenblick auf das hoch technisierte dicht besiedelte Japan der Hochhäuser und erdrückenden Reklame warf, so war ihr Schwerpunkt doch die Schönheit eines Kulturkreises und eines Landes, das trotz seiner Entrücktheit im fernen Osten das ästhetische Empfinden des Europäers in Entzücken zu versetzen vermag.

In der kurzen Zusammenfassung durch Herrn Dr. von der Weppen klang durch, was wohl von den meisten Teilnehmern empfunden wurde: Die gemeinsame Beschäftigung mit Philosophie und Kunst, mit dem Guten, Wahren und Schönen, vermag im Menschen eine harmonische Schwingung zu erzeugen, die gemeinschaftsfördernd, ja in der Lage ist, die Bereitschaft zum Frieden zu stärken. Eine schönere und wichtigere Zielsetzung ist für die Sokratische Gesellschaft nicht vorstellbar.

Alfried Lehner


Im folgenden nun Kurzfassungen einiger Referate:

Prof. Dr. Helmut Girndt:

Wider den Zeitgeist. Die idealistische Sicht der Dinge

Herr Prof. Girndt, ehemaliger Präsident der Internationalen Johann Gottlieb Fichte-Gesell­schaft, beehrte uns mit seinem Vortrag zum Grundansatz der Philosophie Fichtes. Beginnend mit einer gedanklichen Skizze des Zeitgeistes folgte die Thematisierung der beiden grundlegenden Begriffe Erkenntnis und Leben und ihr Verhältnis zueinander. Die idealistische Analyse der Beziehung von Erkenntnis und Leben war das Anliegen des Vortrags und sei für unser Wirklichkeits­verständ­nis entscheidend. Der Redner wies darauf hin, dass in unserer heutigen sensualistisch geprägten Zeit eine idealistische, d. h. mehr geistig durchsetzt Daseins­be­wäl­tigung dem Zeitgeist gut tun würde. Wir spüren alle den materialistisch orientierten Zeitgeist, alle Lebensbereiche werden von ihm erfasst, „ein rasanter und sich zunehmend beschleu­nigender technischer Fort­schritt und in seiner Folge ein Wandel unserer sozialen Beziehungen, prägen zunehmend das Zeitbewusst­sein.“ Es war Nietzsche, vor mehr als hundert Jahren, der das fortschrittselige Zeitalter hellsichtig diagnos­ti­­zierte und das Kommen des Nihilismus ankündigte, so der Referent. Die vorherrschend wissenschafts- und wirtschaftsorientierte Denkweise gibt uns keine ideale Geborgenheit, keinen Trost, keinen metaphysisch garantierten Sinn mehr, Gott ist tot. Von Nietzsche stammt der Ausspruch, dass sich das Leben durch uns selbst darstellt und wertet, wir brauchen bloß darauf Acht zu geben. Aus der Sicht des Zeitgeistes handelt es sich beim Leben und Erkennt­nis um Ergebnisse evolutionärer Naturprozesse, um zufällige und – gemessen an kosmischen Dimensionen – um bald vergängliche Phänomene.

Im Verlauf des Vortrages ergab sich die Frage, ob es einen gemeinsamen Boden für das Denken Nietzsches und Fichtes gibt? Was das Verhältnis von Leben und Erkennen angeht, schon, sagte Prof. Girndt. Für Nietzsche ist das Erkennen oder die Wissenschaften nur ein Hilfs­mittel das Leben einzurichten, mehr nicht. All unsere Erkenntnis dient im Grunde zur Lebenserhaltung und Lebens­steigerung oder in der Sprechweise Nietzsches: zur Erhaltung der Macht. Erkenntnis wird dadurch instrumentalisiert und vom hohen Sockel der Erkenntnisverherrlichung geholt. Das ist eine der großen Botschaften Nietzsches. Würde man diese Botschaft ernst nehmen, wie viel so genann­tes technisch wichtiges Erkanntes und Realisiertes wäre Nebensache, weil es das Leben oder unsere lebendige Existenz nicht benötigt bzw. nicht bereichert.

Die Gemeinsamkeiten zwischen Nietzsche und Fichte, so stellte Herr Prof. Girndt fest, sind nicht in erster Linie wissenschaftlich objektiv feststellbare Sachverhalte, sondern vielmehr über einen Wissenschaftsanspruch hinausgehendes Denken als „Ausdruck des lebendigen und schöpfer­ischen Lebens“. Das Leben empfinden wir unmittelbar als lebendigen Vollzug in uns, im Wissen, Empfinden, Erleben und im Gefühl. „Denn das Leben ist vorgängig, das sich im unmittelbaren Lebensakte vollziehende Leben und bleibt es auch dann, wenn es sekundär gleich einem Spiegelbild zum Objekt wissenschaftlicher distanzierter Beobachtung wird.“ Leben und Erkennen sind vor aller Reflexion in uns als Subjekt verschmolzen; erst in einer weiteren geistigen Operation kann es zu einer distanzierenden Objektivation des Lebens in entfremdeter Gestalt in Form naturwissen­schaft­licher Erkenntnis kommen. Der ganze Vortrag zentrierte sich um diesen Zusam­menhang aus dem sich die ganze Philosophie Fichtes entwickeln läßt, so der Referent. Die Differenz der beiden Denker ergibt sich nun dadurch, dass Fichte die Erkenntnis nicht nur in eine Beziehung zum Leben – wie es Nietzsche auch tat – sondern auch zu sich selbst setzte. Diese Selbsterkenntnis Fichtes, indem er das Ich als ein Selbst setzte war das eigentliche Thema des Vortrages. Prof. Girndt behauptete, das nur aufgrund einer Erkenntnis über das Erkennen, d. h. eine Selbsterkenntnis sich eine Beziehung zwischen dem Leben und dem Erkennen herstellen läßt. Die Beziehung an sich kann ja wohl weder im Leben noch im Erkennen selbst liegen. Diese Beziehung des Erkennens auf sich selbst nennt Fichte an Kant anschließend Vernunft und Nietzsche Intelligenz, so erfuhren wir. Dieser grundlegende Sachverhalt erschließt einen nach innen gerichteten Blick auf das allem Erkennen der Wirklichkeit voraus­gesetzte Wissen; auf ein Wissen vom lebendigen Wissen. Dabei handelt es sich aber nicht um psychologische Introspektion, sondern um eine logische Reflexion und Rekonstruktion der denknotwendigen möglichen Bedingungen lebendigen Wissens und Erkennens, wie es der transzendental­philosophische Ansatz Fichtes fordert. „Sein und Leben kann es nur geben für jemanden, also für vernünftiges Dasein, für eine Intelligenz, die sich selbst und das Leben als ihren Ursprung erkennt.“ Eindringlich betonte Prof. Girndt, dass es sich beim Leben, also dessen Existenz oder Nicht­existenz, seines Beginns und seines Endes, nur „um einen Gedanken über das Leben, der die unergründliche Existenz des Lebens für das Erkennen immer schon voraussetzt”, handelt. Aus rein logischen Gründen ist es unmöglich, jene These zu vertreten, dass Leben sei für sich da. Denn wie jede andere These, so setzt auch sie einen lebendigen erkennenden Geist voraus, ohne den es keine Erkenntnis geben kann. Das Leben ist demnach keine Flüchtigkeit im Weltall, wie Nietzsche in einer seiner Fabeln denkt. Eine naturalistische Sicht der Dinge ist und bleibt dem Leben äußerlich. Die idealistische Sicht weist alle Versuche, die Vernunft als Erzeugnis bloß materieller oder biologischer Prozesse anzusehen, zurück. Es herrschen heute gefährliche natura­listische Weltbilder, die in der Hirn- und Geist­forschung heftig debattiert werden. Gegen diese naturalistische Auffassung steht die Sicht der klassischen deutschen Philosophie mit ihren Prota­gonisten Kant, Fichte und Hegel. Aus dieser „koperni­kanischen Wende der Erkenntnis“, (d. h. wir machen die Gesetze der Natur und der Freiheit) wie Kant sie nannte, ergeben sich Konsequenzen, die schon in der Antike, über zwei­tausend Jahre vor unserer Zeit in der Philosophie Platons mit seiner Ideenlehre in einfacher Form vorweg­genommen worden sind. Nach Fichte, der seine Lehre vom Wissen in methodisch reflektierter Form und mit dem Anspruch auf Rationalität entwickelte, ist die im Alltag und in der Wissen­schaft begegnende Wirklichkeit aus zweiter Hand, eine Projektion nach inneren Gesetzen des Lebens und des Wissens, Erscheinung und nicht wahres Sein. Einige aus dieser Sicht der Dinge resultierende Einsichten und Lebenshaltungen zu entwickeln, war Gegenstand der weiteren Ausführungen. Wir hörten einen originellen und interessanten Vortrag und bekamen eine Ahnung welche positive Sprengkraft und Erhellung das idealistische Denken in Ansehung der pragma­tisch und materialistisch durchsetzten ­Zeit besitzt. Würden die Menschen heute ihre lebendigen Erkenntnisse mehr auf sich selbst als Vernunftwesen beziehen, hätte unsere gute Erde samt aller lebendigen Natur weniger zu leiden.

Dr. Gunther Stephenson:

Kunst als Religion. Gedanken zur ästhetischen und religiösen Wahrnehmung

Im Zusammenhang mit der Arbeit an einem Buch zum Thema Kunst als Religion als Arbeitstitel trug Herr Dr. Stephenson den etwas gekürzten Teil des Zentralkapitels vor. Das Buch befaßt sich mit der europäischen Malerei um 1800 und 1900, also mit der Landschaftsmalerei der Frühromantik und der Avantgarde der abstrakten Maler um 1910. An betroffenen Künstlern wurden Joseph Mallord William Turner und Caspar David Friedrich sowie Wassily Kandinsky, Franz Marc, Piet Mondrian und Lyonel Feininger hervorgehoben.

Da beide Zeiten – um 1800 und 1900 – sich in einem großen geistigen Bogen verbinden lassen, hat sich Herr Dr. Stephenson zur Aufgabe gemacht, die Verwandtschaft von Kunst und Religion – genauer: Malerei und Religiosität – zu beleuchten. Beide Phasen der Geistesgeschichte sind von der heraufziehenden Säkularisierung einerseits und der Entdeckung eigenständiger religiöser Impulse andererseits geprägt: Unter den deutschen Romantikern sind es Schleiermacher, Schlegel, Novalis und Runge, die zum Neubeginn der „Neuen Mythologie“ beitragen. Um 1900 sind es Rilke, Ibsen, Cezanne, der Jugendstil, Physiker und vieles mehr, was eine fortgeschrittene „Entfremdung“ des Lebens mit neuen religiösen Ideen begleitet.

Für beide Epochen gilt eine gewisse Sakralisierung der Kunst und eine Ästhetisierung der Religion. Eine der Kunst zugewandte und in ihr sich erfüllende Religiosität in Kreisen einzelner Individuen heißt das Stichwort. Es galt also zu untersuchen, wie über die Wahrnehmung der Natur wie der Malerei oder Musik sich religiöse Empfindungen einstellen und ästhetischen Ausdruck suchen, und andererseits, in welchem Maße religiöse und metaphysische Sichtweisen verschiedener Art die schleichende Entchristlichung unterlaufen. Schließlich sollte sich zeigen, daß man am Ende sogar von einer „Kunstreligion“ (Novalis) sprechen kann, also einer Religiosität, die durch die Kunst zu sich selbst findet. Hier verwies der Redner als Beispiel auf den „Blauen Reiter“ von 1912.

Dr. Matthias Thiemel:

Docta ignorantia. Zur Künstlerästhetik Sergiu Celibidaches

Selbst bekannte Symphonien verstand Celibidache zu Klingen zu bringen, nahe zu bringen, als vernähme man die Musik wie zum ersten Mal, wie ein originäres Werden. Eng damit zusammen hängt das Diktum des Dirigenten, es gebe keine musikalische Tradition, wenn sie nicht ständig aufs neue geschaffen wird.

Was Musik genannt zu werden verdient, kann im wahrnehmenden Bewußtsein allerdings nur entstehen, wenn die Bedingungen geschaffen werden, daß aus klanglichem Nacheinander musikalischer Sinn wird. Derartige Bedingungen zu realisieren liegt wesentlich an der Kompetenz der Ausführenden. Dieser Sinn ist jedoch direkt nur sehr begrenzt beschreibbar. Jeder Grund gebende Begriff, jeder Grundbegriff kann Musik werden. Dabei ist die Begriffsgeschichte höchst aufschlußreich (Musik, musica, und ebenso, zumindest für Celibidache, entsprechende und divergierende Begriffe im Sanskrit). Was seit etwa 1800 im Schrifttum über Musik richtiger Vortrag heißt, ist noch beschreibbar; der Schlußstein des schönen und wahren Vortrags hingegen liegt in der Feststellung, daß Musik sich dem Zugriff der Wortsprache entzieht.

Inflationär gewordene Begriffe wie „Interpret“, „Interpretation“ (und entsprechende Meinungen) haben einer musikalischen Hermeneutik mehr geschadet als ihr gedient. Dabei ist die Musik – angefangen bei Raumakustik und Instrumentarium – für eine Varianz angemessener Realisierung offen. Ein Werk gewinnt Existenz stumm als Notentext und klingend im Kollektiv einer Vielzahl von Realisierungen.

Gestalt sichtigen Musikern wird es dabei zur primären Aufgabe, allererst die den Tönen innewohnenden Beziehungen, Gruppierungen, Stimmführungen, Kontrapunkte zu erkennen und klingend freizusetzen. Musikalische Phrasierung ist dann nicht Sache willkürlicher Entscheidungen.

Der zunächst durch Heinrich Schenkers Schriften geschulte, später phänomenologisch orientierte Dirigent Sergiu Celibidache (1912–1996) bezeichnete Phrasierung trefflich als die „gesetzmäßige Verteilung der den Intervallen innewohnenden Kräfte“ (Seminare an der Universität Mainz, 1979–1991). Der Musikbetrieb des fortgeschrittenen 20. Jahrhunderts hat es jedoch vielerorts unmöglich gemacht, die Werke nach den ihnen innewohnenden Gesetzen zur Entfaltung zu bringen. Tonale Werke bilden ein Ganzes aus, das es nach Celibidache nicht zu interpretieren, sondern zu begreifen gilt.

In den vorbereitenden Phasen – Analysen und Proben – spielt im Umgang mit Intervallen, Motiven und sogenannten Formteilen (modaler und tonaler Musik) die Polarität von Introversion und Extraversion eine entscheidende Rolle. Für den Bereich ästhetischer Identifikation im Konzert jedoch bekämpfte Celibidache jedwede Denkkonzepte und räumte dem Wahrnehmen und dem spontanen Reagieren auf das im Hier und Jetzt Erklingende den alles entscheidenden Platz ein. Musikalische Gestaltung auf dem Konzertpodium ist also keine Angelegenheit des Wissens.

In seinen Berliner Jahren war Celibidache tief beeindruckt worden durch Wilhelm Furtwängler. Dieser hatte beklagt, es werde in der Kunstbetrachtung seiner Zeit zu wenig vom Werk als Organismus ausgegangen. Zudem gehe man „fälschlich“ davon aus, daß der Mensch eine Denkmaschine sei.“ Damit ist verbunden die Einsicht: „Verstehen wollen vor der Hingabe an das Werk, vor dem oder während des Erlebens, wie es heute so häufig der Fall ist, führt nur zu Irrtümern“ (Aufzeichnungen Wiesbaden 1980).

Tonalität heißt und verkörpert potentiell und aktuell „Anfang im Ende“. Zu dem Erlebnis wirklicher Entelechie (in „Sternstunden“) gelangte Celibidache auf der Grundlage eines großen und fachübergreifenden Wissens und mittels einer Methode, die er in Nachbarschaft zur philosophischen Phänomenologie pflegte und pädagogisch sokratisch vermittelte. Immer wieder fruchtbar gemacht wurde der Bereich der indirekten Mitteilung, dasjenige Offenbare, was nicht unmittelbar gewußt, aber vernommen werden kann.

Herr Dr. Thiemel arbeitet an einem Buch, in welchem er ein Porträt Celibidaches darstellen wird. Dort wird er zeigen, daß Celibidache als Eklektizist mit sokratischen Zügen zu begreifen ist; in seinem Selbstverständnis und einer wichtigen biographischen Prägung war er Zen-Buddhist. Die Kenntnis von Wesenszügen ostasiatischer Kunst (Natürlichkeit, Würde, Schlichtheit, abgründige Stille) und südasiatischer (indischer) Weisheitslehren kann zum Nachvollzug dieser Künstlerästhetik beitragen.

Alfried Lehner und Dr. Ulrich Fritz Wodarzik