Wir gedenken Wolfgang von der Weppen

WEN DIE GÖTTER LIEBEN,
DEM GEWÄHREN SIE DEN FRÜHEN TOD

Wie treffend ist dieses Wort des Plutarch in seiner „Trostrede an Apollonios“, dessen Sohn gestorben war, bedenken wir den so frühen Tod unseres Wolfgang von der Weppen.

1943 geboren, ist Wolfgang von der Weppen am 30. März 2009 von uns gegangen, im Alter von noch nicht einmal 66 Jahren, und er hinterließ einen besonders großen Kreis von Zugehörigen und bewundernden Anhängern, seine Familie natürlich zuerst, aber auch eine große Anzahl von Freunden und Bekannten, die nun gemeinsam um diesen wertvollen Mann trauern.

Wer hätte bei der letzten von ihm geleiteten Tagung der Sokratischen Gesellschaft in Freiburg am 7. und 8. Februar 2009 vermuten können, dass dieser so lebendige, gesund erscheinende, aktive und verbindliche Mann schon in Kürze nicht mehr unter uns weilen würde? Er starb ja nicht einmal an einer der typischen organischen Erkrankungen, durch die das Leben der Menschen heute bedroht ist; ein kleines, unbedeutendes Gefäßversagen, das nicht vorhersehbar war, und aber dann auch zu einem schnellen Tod führte, hat diesem Menschenschicksal viel zu früh ein Ende bereitet. Dass der Tod nicht nach langem Siechtum, sondern sehr schnell kam, kann nicht darüber hinweg helfen, dass die Trauer groß ist.

Was hätten wir, seine Familie, seine Freunde und seine Bewunderer alles von ihm noch erwarten dürfen, nicht nur von dem Erzähler, Lyriker und philosophischen Essayisten, sondern auch von diesem philosophischen Kopf par excellence. Und war er doch auch mit der Begabung versehen, Menschen aufeinander zuzuführen, auch in Organisationen, die er leitete, integrative Kraft allerersten Ranges zu entfalten und deren Gedeihen selbst in so starkem Maße zu prägen, dass ihn der Sinnspruch mens agitat molem besonders treffend charakterisiert. Sein Geist hat wirklich viele Beschwernisse, Hindernisse und Lasten bewegt, aus dem Weg geräumt und Ideen Bahn verschafft.

Einige biographische Daten

Nach seiner Kindheit am Bodensee hatte er in Wien Fächer studiert, die dann später die kulturgeschichtlichen Kenntnisse und den großen Überblick seines umfassenden Bildungsbogens prägten, wie Germanistik, Geschichte, Psychologie, Soziologie, Kunstgeschichte und Philosophie. Nach Staatsexamen und dem Abschluss als Magister Artium folgte die Promotion und eine Tätigkeit als Wissenschaftlicher Assistent im Fach Philosophie an der Universität Würzburg. Hier wurde er Hochschulreferent des Bayerischen Philologenverbandes und avancierte schließlich in seinem Beruf zum Studiendirektor in Wasserburg am Inn.

Ich selbst kenne ihn bereits seit 1982, dem Jahr, wo er Mitglied der Humboldt-Gesellschaft für Wissenschaft, Kunst und Bildung und von dieser Zeit an ein regelmäßiger Teilnehmer der Tagungen dieser Gesellschaft wurde. Schon dort fiel immer wieder auf, wie intensiv er an Fragen der Philosophie - seinem Hauptfach - interessiert war, und seine Diskussionsbemerkungen zu vielen wichtigen Fragen, etwa der Evolutionstheorie oder auch der Klärung wissenschaftstheoretischer Probleme, waren stets von hohem Rang.

Mich selbst hat dabei immer gefreut, dass er genau wie ich die heute immer noch umstrittene These ebenso wenig akzeptieren und aufgreifen wollte, der Mensch sei für seine Handlungen wegen der in seinem Gehirn ablaufenden neuronalen „Prädestination“, die uns manche Hirnphysiologen heute einreden wollen, eigentlich gar nicht für sein Handeln verantwortlich. Hierin war er mit vielen Anderen unter uns einig, weil er die Argumente dafür kannte, dass das beobachtete Auftreten zugeordneter elektrischer Neuronen-Potentiale schon vor einer bewussten Willensentscheidung keineswegs nur erklärbar ist, wenn man unterstellt, der Mensch könne realiter gar nicht frei entscheiden, sondern mit einer viel einfacheren, gegenteiligen Begründung erklärt werden kann, wie sie etwa von dem weltberühmten Neurophysiologen Hans Helmut Kornhuber schon 1965 in Arbeiten über die von ihm damals so benannten „Bereitschaftspotentiale“ des Hirns publiziert wurden.

Man könnte es sich fast schenken, die vielen anderen Ehrungen, Mitgliedschaften in wissenschaftlichen Vereinigungen, etwa im Fall vom Kreis Metaphysik der Universität Würzburg, in der Société Européenne de Culture in Venedig oder als Deputy Governor im American Biographical Institute (ABI), in der Gesellschaft für Phänomenologische Philosophie an der Universität Tübingen und seine vielen Ehrungen zu erwähnen und einzeln zu beleuchten, zu denen etwa der Preis der Universitätsstiftung Würzburg gehörte, seine Aufnahme in 2000 Outstanding Intellectuals of the 21st Century, einem biographischen Werk aus Cambridge in England, oder seine Nominierung als Mann des Jahres 2005 im International Board of Research des ABI. Es gehört gewissermaßen zum Erscheinungsbild dieses ungewöhnlichen Mannes, dass auch solche Auszeichnungen ihm nur so zuflogen.

Das 33. Sokratische Treffen 7. und 8. Februar 2009 in Freiburg

Die letzte große Aufgabe, die Herr von der Weppen übernahm, resultierte aus seiner Wahl zum 1. Vorsitzenden der Sokratischen Gesellschaft, die er seit dieser Zeit mit seinem Stellvertreter, Professor Bernhard Zimmermann, Universität Freiburg leitete.

Die letzte Tagung Anfang 2009 war besonders durch seine intensive Vorbereitung mit Liebe zum Detail geprägt. Er hatte hier die Leitidee Bildung - humane Aneignung von Welt gewählt. Man merkte Dr. von der Weppen förmlich an, wie engagiert er bereits bei der Vorbereitung dieser wunderbar polyphonen und passgenau stimmigen Einzelereignisse gewesen war, so dass er uns Teilnehmern einen reichen Bilderbogen und ein buntes Bukett bereichernder Vorträge und künstlerischer Darbietungen bescherte, was in der Tat dann zu intensivem und höchst fruchtbarem Austausch der Anwesenden führte:

Eingeleitet wurde der Diskurs über das Leitthema durch ein lebendiges Podiumsgespräch als „dialogischer Gedankenaustausch“ zweier Fachleute ganz unterschiedlicher Gebiete, das gewissermaßen die Maieutik der sokratischen Suche nach Wahrheit als Vorbild nahm, ohne hier etwa eine philosophische Analyse dieser „Findemethode“ des Sokrates zu versuchen, die sich also vielmehr aus dem Dialog der beiden Diskutanten selbst exemplifizierte.

Hochrangige Vorträge über „Philosophieren mit Kindern“ oder über „Humanitätsbildung im Anschluss an Albert Schweitzer“ wurden dann noch durch stilistisch und methodisch ganz andere Elemente einer solchen Tagung ergänzt, zum Beispiel durch die Vorstellung eines Dramas mit Musik mit dem Titel „Sokrates“ durch den Autor und Komponisten Werner Schulze, Wien oder - ebenfalls ein Glanzlicht - durch die mit wertvollen Zwischenerläuterungen aufgelockerte Rezitation der „Apologie“ des Sokrates, vorgetragen durch den Burgschauspieler Rainer Hauer, Graz.

Auch noch einmal durch seine Schlussworte wurde deutlich, wie sehr Wolfgang von der Weppen sich um die Gestaltung dieser Tagung schon im Vorhinein bemüht hatte und mit wie viel Freude er dann auch ihren glücklichen und erfolgreichen Verlauf erlebte.

Herausgeber der Buchreihe Sokrates-Studien
und Gestalter der Mitteilungen der Sokratischen Gesellschaft

Aus der wissenschaftlichen Arbeit der Akademie „Sokratische Gesellschaft“ stammen auch inzwischen bereits 7 Bände „Sokrates-Studien“, von denen Dr. von der Weppen gemeinsam mit Prof. Dr. Bernhard Zimmermann die beiden zuletzt erschienenen herausgegeben hatte.

Auch die Herausgabe der „Mitteilungen der Sokratischen Gesellschaft“ wurde von Wolfgang von der Weppen übernommen. Er verfasste selbst viele der Beiträge, so dass der literarisch hohe Rang dieser Publikationsreihe auch durch seine Artikel mitbestimmt war. Er schrieb hier zahlreiche Laudationes, Buchbesprechungen, Würdigungen geehrter Persönlichkeiten, ehrende Erläuterungen zu Aktivitäten und Erfolgen unserer Mitglieder im In- und Ausland, Begrüßungsadressen an unsere neuen Mitglieder und vieles andere, das das sympathische Klima in der Sokratischen Gesellschaft befruchtete.

Und damit ist ein besonders wichtiger, hier noch gar nicht genügend gewürdigter Punkt im Leben Dr. von der Weppens berührt worden, nämlich seine außerordentlich reichhaltigen schriftstellerischen und essayistischen Leistungen in seinen Publikationen, unter denen die Lyrik einen besonderen Rang aufweist.

Glanzlichter in den literarischen und philosophischen Werken
Wolfgang von der Weppens

Gerade aus seinen Gedichten leuchtet seine große Gestaltungskraft hervor, die diese Gedichte weit über ein so häufig geübtes Reimeschmieden hinausheben. Man fühlt sich oft an eine ähnliche gestalterische lyrische Kraft und große Treffsicherheit in der Findung überraschenden verbalen Ausdrucks erinnert, wie sie bei Franz Richter in Wien immer bewundert werden kann. Dabei sind in die schönen Naturbeobachtungen und Gedanken in der Beobachtung der eigenen Seele durchaus viele philosophische, vertiefende Ideen mit eingeflochten, ohne diese schönen lyrischen Zeilen zu überfrachten.

Dr. Markus Raab hat es in seiner Grabrede am Grabe Wolfgang von der Weppens besonders schön formuliert: Er bescheinigte ihm „die Gabe einer eigentümlichen Sensorik für Sachverhalte, für Situationen und für Charaktere. Eine Sensorik, die ihn etwa dazu befähigte, unangestrengt souverän über Kunst zu sprechen, gleich ob es sich um Literatur, Musik, Malerei oder … Film handelte. Wolfgang von der Weppen hatte einen Blick dafür, was sich hier an Wahrem zeigt.“

Viel Resignation schimmert aus manchen Gedichten hervor, wie es etwa in seinem Gedicht Die Langeweile des Daseins erkennbar wird:

Wir aber sterben leise,
und geben rasch allem namen
und haben es darin ver nichtet,
erledigt und abgetan,
unsere begriffe nämlich stanzen wir in schilderfabriken…

Wolfgang von der Weppen litt mit zunehmendem Alter an den Gegebenheiten unserer Zeit mehr und mehr. Man spürt seine wachsende Enttäuschung, die in seinen früheren, etwa philosophischen Essays wie Der Spaziergänger oder Das verlorene Individuum. Eine phänomenologische Skizze zur Funktionalisierung von Welt oder auch in seinem Kindheitsroman Victorsberg von 1998 noch nicht zu spüren war.

Gewiss bewahrte ihn seine geliebte Familie vor allzu großer Resignation, aber es schenkten ihm auch etwa Besuche bei Franz Richter und seiner Frau Edith in Wien beglückende menschliche Erlebnisse, bei unserem großen österreichischen Dichter also, der unserer Sokratischen Gesellschaft nahesteht. Auch halfen ihm seine weiteren Freundschaften über seine Betrübnis angesichts mancher Fehlentwicklungen in den geistigen Strömungen unserer Zeit hinweg. Aus dem Schriftwechsel mit ihm kann man jedoch zunehmend auch Enttäuschungen über das Leben des heutigen Menschen herauslesen.

Umso freudiger erlebte er dann etwa seinen Aufenthalt in Wien vor Ostern 2006! Sein Bericht Spaziergänge in Wien 2006 hat er Edith und Franz Richter in Dankbarkeit für ihre Gastlichkeit und ihre Freundschaft gewidmet. Ein liebenswertes Beweisstück seiner großen Erlebniskraft und seiner Freudengefühle, die ihm nicht nur die Begegnung mit diesen Freunden dort verschaffte, sondern auch seiner Erinnerungen an die eigene Wiener Schul- und Studienzeit, die seine damalige Reise nach Wien in ihm wachriefen und in ausdrucksvoller literarischer Gestaltungskraft verarbeitet sind, von den von ihm selbst „geschossenen“ Fotoillustrierungen ganz zu schweigen, die er für unvollkommen hielt, die jedoch der Darstellung gerade erst durch seine eigene subjektive Motivauswahl (statt einer professionellen Fotostrecke) die hohe Authentizität der Gestaltung verleihen.

Ja, so etwas konnte ihn begeistern und seine immense Arbeit, etwa bei der Gestaltung der Tagungen bei der Sokratischen Gesellschaft und bei der Publikation der „Mitteilungen der Sokratischen Gesellschaft“ beflügeln, dass es eine Freude ist, die liebenswürdige Zuwendung von Wolfgang von der Weppen zu sehen, mit denen er ehrenvolle Auszeichnungen von Mitgliedern unserer Gesellschaft, den Willkomm, den er neuen Mitgliedern entgegenrief, wahrzunehmen und seine Würdigungen neuer, interessanter literarischer Erscheinungen oder von Kompositionen zu lesen. Das umfassende Humanum dieses großartigen Philosophen und großherzigen Menschen tritt hier immer wieder ganz deutlich in Erscheinung, ohne dass dabei seine eigene Resignation bei der Beurteilung mancher Fehlentwicklungen durchschimmert.

Die Schärfe seines Denkens hat er gewiss nie verborgen, sich wohl aber sehr häufig zurückgenommen, weil ein großer Antrieb in seinem Leben daraus resultierte, dass er sich freute, anderen Menschen eine Freude bereiten zu können.

Seine nach und nach zunehmenden Enttäuschungen, die er durchaus freimütig äußerte, galten zum Beispiel der „Käuflichkeit“ von Literaturpreisen, die er in mehreren Faktoren begründet sah:

„In einer absoluten inhaltlichen und stilistischen Anpassung an den
herrschenden Duktus; manchmal kommt Protektion hinzu…“

Solche Feststellungen konnte er mit guten Beispielen auch belegen.

Besonders bedrückte Wolfgang von der Weppen die inhaltliche Stereotypie der Themen:

„Drittes Reich, Wieder vereinigung , Homoerotik, Jugendszene mit Diebstahl, Drogen, Sex etc.,
Emanzipation, Ausländer probleme… Das alles ist schwer anzufechten, doch in der Entwicklung eigentlich beklemmend; stilistisch geht die Reise vom Intellektuellen-Jar gon bis zum Schlagwortstil der jeweiligen Gegenwart… Die bewusste Einsetzung von Jar gon im Roman (wie etwa im Ulysses von Joyce) ist etwas anderes und kann wesentlich für die Darstellung von Welt sein; doch den vor nehmen Ton per se auszuschließen und als Relikt einer „gottlob“ unter gegangenen Welt zu werten, ist makaber. Selbst ein Franz Richter … hatte hier keine Chance, noch weiter nach vor ne zu rücken.“

Hier verstummt der früher doch durchaus kämpferische Ton Wolfgang von der Weppens mehr und mehr und schlägt um in eine unverkennbare Resignation.

Gut, dass es für diesen unseren verehrten Freund doch aber noch viele Ruhepunkte und Gründe zur Freude in seiner Familie und in seinem Freundeskreis gab. Diese Freude konnte man ihm durchaus auch immer wieder anmerken. Das freudige Erlebnis seiner letzten so gelungenen Tagung im Februar 2009 in Freiburg konnte er leider nicht mehr lange in sich nachklingen lassen. Wir werden ihn vermissen und wir werden sehr lange um ihn trauern.

Prof. Dr. Wolfgang Weber

Im folgenden bringen wir die letzten, noch unveröffentlichen Texte
von Dr. Wolfgang von der Weppen zum 33. Sokratischen Treffen in Freiburg.


BEGRÜSSUNGSREDE VON DR. VON DER WEPPEN

Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Gäste, liebe Sokratiker,

ich darf Sie alle und insbesondere unsere Referenten und Vortragenden ganz herzlich zum 33. Sokratischen Treffen begrüßen, so darf ich namentlich besonders die Referenten des heutigen Vormittags begrüßen, Prof. Dr. Harald Lesch, Prof. Dr. Vossenkuhl, beide aus München, und Prof. Dr. Schaefer aus Hamburg, der uns das Thema Bildung bzw. Allgemeinbildung aus naturwissenschaftlicher Sicht beleuchtet. Heute Nachmittag wird Prof. Dr. Schulze aus Wien - er ist gleichermaßen Musiker wie Philosoph - das von ihm komponierte und geschriebene Sokrates-Drama in seinen Grundzügen vorstellen, und nach ihm wird der Regisseur und Burgschauspieler Prof. Dr. Rainer Hauer in freier Rezitation uns die Verteidigungsrede des Sokrates nahebringen. Für morgen begrüße ich schon im voraus Prof. Dr. Löwisch aus Duisburg, der uns vorführt, wie man mit Kindern philosophieren kann. Abschließend wird Prof. Dr. Hans Lenk, ehemaliger Olympiasieger, aus Karlsruhe, der erste Deutsche, der zum Präsidenten des französischen Weltphilosophenverbandes gewählt worden war, über Humanitätsbildung im Anschluß an Albert Schweizer sprechen. Ganz besonders herzlich begrüße ich sodann Prof. Dr. Wolfgang Weber, Computerfachmann auf höchster Ebene und Gründungsrektor der ersten privaten Universität im vorderen Orient, in Antalya, der trotz gesundheitlicher Handicaps zu uns gefunden hat. Ich freue mich auch sehr Dipl. Ing. u. StD a.D. Jürgen Miericke hier erstmals begrüßen zu können. Mit ihm gemeinsam habe ich vor Jahren für einige Zeit an der Spitze der Vertretung der Studienreferendare in Bayern - mit gelegentlichem Erfolg - den Versuch gewagt, das Bildungsestablishment ein wenig zu verunsichern. Ganz herzlich begrüße ich auch stellvertretend für alle die uns so treu auf unseren Tagungen begleitenden Mitglieder unser Ehrenmitglied Dr. Erich Weilbach sowie die Witwe des Gründers der Sokratischen Gesellschaft, Frau Gisela Kessler.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

das Thema Bildung ist mittlerweile inflationär geworden, eigentlich ist es überflüssig, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. „Bildung“ ist Chefsache geworden, und nach dem Bildungsgipfel der Kanzlerin in Dresden sind wir auf dem besten Wege zur „Bildungsrepublik“ Deutschland. Jedenfalls wird dies propagiert.1

Allerdings weiß keiner mehr so recht, was Bildung ist oder sein sollte; in der Bildungspolitik werden keinerlei Begriffsbestimmungen vorgelegt; es gibt nur diverse Statistiken und Zahlen, die man für anbetungswürdig hält; es fehlt mittlerweile soweit an Bildung, daß man es nicht mehr schafft, die Zahlen, die Statistiken, die man einbringt, kritischer Beleuchtung auszusetzen; ein Beispiel: eben hat man noch Georg Picht in Grund und Boden verurteilt, da man ihm - m.E. zu unrecht, denn es gab viele Pichte, die in dieses Horn stießen - vorgeworfen hat, daß er mit seiner Forderung nach mehr Abiturienten eine unverantwortliche Aufblähung und eine Absenkung des Bildungslevels, eine „Inflation der Bildungsabschlüsse“ begünstigt habe; nunmehr wird in einem anderen Rahmen erneut gefordert, die Zahl der Abiturienten zu erhöhen.

Seit nahezu 50 Jahren scheint Bildungspolitik darin zu bestehen, polarisierte Positionen je nach Maßgabe der Machtverhältnisse hin- und zurück zu korrigieren: Pädagogik vom Kinde aus - alles soll ohne Anstrengung gehen, Spiel sein -, dann wieder Abwertung des Spielens gegenüber dem Lernen - als wäre das Spiel nicht die ureigenste Form kindlichen Lernens; Leistungsprinzip hier - soziale Kompetenz da; und stets soll die eine, die spezifische Lösung den anhaltenden Erfolg bringen: die Segregation der Hochbegabten, dann wieder die Gemeinschaftsschule, der Aufhebung sozialer Benachteiligung wegen, usw. usf.: PISA-Studie - in Folge weiterhin Heckenscherenpädagogik; Drill, Primat behaviouristischer Kontrollmechanismen (Quality-Management), Exzellenz-Initiative zur Förderung von Wissenschaft und Forschung soll den großen Aufschwung bringen; was bleibt ist ein Input-Output-Denken, eine durchgängige Verschulung der Hochschulen. Stets nur kleinteilige, kurzatmige Lösungen:

Wolfgang Frühwald, ehemaliger Präsident sowohl der Deutschen Forschungsgemeinschaft (1992 bis 1997) wie der Alexander-von-Humboldt-Stiftung (1999 bis 2007) hebt diesbezüglich in seiner Rede zum Neujahrsempfang der Evangelischen Akademie Tutzing am 30. Januar 2008 hervor: „Das Dilemma unserer unentwegt kleinteiligen […] Bildungsreformen ist, daß wir jeweils an einem Modul des Systems zu basteln beginnen und damit die Anschlüsse an die anderen Module schwächen oder gar zerstören….was uns fehlt, ist die Bildungsreform aus einem Guß.

Dies ist schwer zu machen, fehlt es doch immer an Zeit, an Geduld und vor allem an ganzheitlichem Denken. Jeder bringt sein Rezept zum Auftauen der tiefgefrorenen deutschen Bildungswelt in einer Weise ein, wie sie der Filmliebhaber von Polanskis Tanz der Vampire her kennt, wo nämlich der eingefrorene Vampirjäger Prof. Abronsius aufgetaut werden soll:

An den Ofen mit ihm, nein, nicht an den Ofen, er könnte zerspringen wie Glas; einreiben mit Schnee, nein, nicht einreiben, das ist zu gefährlich; ins kalte Wasser mit ihm, nein, um Gottes willen, ein heißes Bad, ja, aber nur mit Senf…

Jürgen Baumert, Berliner PISA-Koordinator bemerkt hierzu (also zur deutschen Bildungspolitik, nicht zum Tanz der Vampire): „Am meisten überraschen mich Vorschläge, die suggerieren, man könne mit einer Einzelmaßnahme Mängel heilen.2

Dazu gehören der Ruf nach der Gesamtschule, der Ganztagsschule [...], dem Zentralabitur, nach kleinen Klassen oder nach mehr Drill. Dass es sich noch nicht herumgesprochen hat, dass Schulen komplexe Systeme sind, die sich nicht mit einem einzigen Hebel steuern lassen - das überrascht mich wirklich.“ 3

Ähnliches wäre über den Bologna-Prozeß 4 zu sagen: Vergleich von nicht Vergleichbarem. Hinzu kommt das, was Martin Buber ‚Verwendungssucht’ nennt - ein grenzenlos herrschender Utilitarismus. Über die Nivellierung des Bildungssystems auf europäischer Ebene bemerkt Frühwald folgendes: „Die Unterschiede zum deutschen Bildungssystem sind eklatant, doch eines scheint mir einleuchtend, die entwicklungsnotwendige Phase der Selbstvergewisserung junger Menschen bei der Ablösung vom Elternhaus, die wir konsequent aus Gymnasium und Studienbeginn zu eliminieren beginnen, muss erhalten bleiben.“ Man scheint nicht auf ihn gehört zu haben. Freiräume sind nicht in Sicht. Allerdings - so Frühwald: „ Wenn es uns nicht gelingt, dieses Nutzenkalkül aufzubrechen, hat die Universität als der Ort des freien selbstbestimmten Denkens keine Zukunft mehr.“ Alles in allem scheint es wenig ermutigend, in das Thema ‚Bildung’ einzusteigen. Wir wollten es dennoch versuchen, doch von einer ganz anderen Seite her, als von der der üblichen rituellen Klagen, und ohne den bekannten Schlagabtausch politischer Positionen. Ein Fontane-Zitat, welches Wolfgang Frühwald in seiner Tutzinger Rede in den Gedankengang einbrachte, möge dies kurz beleuchten, was Bildungsmachern längst aus dem Blick geschwunden ist:

Fontane hatte an seine Tochter Methe folgendes geschrieben: „Ich bin fast zu dem Satz gediehen: ‚Bildung ist ein Weltunglück.’ Der Mensch muss klug sein, aber nicht gebildet. Da sich nun aber Bildung, wie Katarrh bei Ostwind, kaum vermeiden lässt, so muss man beständig auf der Hut sein, dass aus der kleinen Affektion nicht die galoppierende Schwindsucht wird.“ Frühwald fügt hinzu: „Was Fontane Klugheit nennt und vom bildungsbürgerlichen Besitzdenken abgrenzt, würden wir heute wieder ‚Bildung’ nennen, im Bewusstsein, dass sie nahe verwandt ist mit ‚Weisheit’ und im 18. Jahrhundert [ehe die Karriere des neuhumanistischen Bildungsbegriffes begonnen hat] auch so hieß.“ In diesem Sinne also wollen wir versuchen, uns dem Gedanken der Bildung zu nähern.

Dr. Wolfgang von der Weppen


1 Welt online: "Bildungsgipfel endet mit Bund-Länder-Blockade" von R. Alexander und D. Deißner, 22. Oktober 2008, 18.48 Uhr Der Bildungsgipfel in Dresden sollte der erste Schritt hin zu einer von Bundeskanzlerin Angela Merkel propagierten „Bildungsrepublik“ Deutschland werden. Doch der Bund-Länder-Streit um die Finanzierung ließ nur wenige Beschlüsse zu. Für Einigkeit soll nun eine Strategiegruppe sorgen.

2 Hervorhebung von mir.

3 Süddeutsche Zeitung Nr. 282 vom 7. Dezember 2001, 24, Artikel: Wenn das kulturelle Kleingeld fehlt. Nirgendwo ist der Einfluss des sozialen Milieus auf die Schulleistungen so groß wie in Deutschland, sagt der Berliner PiSA Koordinator Jürgen Baumert.

4 Ende der 1990er Jahre wurde eine initiative gestartet, das Hochschulwesen in Europa vergleichbar zu machen. Auf der Grundlage einer Vereinbarung des Jahres 1998 (Sorbonne-Erklärung) zwischen den Bildungsministern Frankreichs, Deutschlands, italiens und Großbritanniens erwuchs ein Jahr später die Erklärung der Bildungsminister, die von Vertretern aus 29 europäischen Ländern am 19. Juni 1999 in Bologna unterzeichnet wurde. Die Vorbereitung und Umsetzung dieser (unverbindlichen) Erklärung wird als Bologna-Prozess bezeichnet.