28. Sokratisches Treffen

Der Kreis hat sich geschlossen


Schlußwort zum 28. Sokratischen Treffen von Alfried Lehner

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

die Sokratische Gesellschaft ist einmalig auf der Welt. – In einer gewissen Hinsicht ist das sicherlich richtig; denn diese Gesellschaft hier in Mannheim ist natürlich ein Individuum; aber wir sollten uns wünschen, daß es überall in der Welt kleinere und größere Gruppen geben möge, die zusammenkommen, um über jene geistigen Dimensionen nachzudenken, die den Menschen letztlich ausmachen; die sich die menschliche Gesellschaft aber immer wieder bewußt machen muß, um das Leben auf dieser Erde lebenswert zu erhalten.

Welch eine Vielfalt der Themen wurde auf dieser Tagung behandelt; und doch hängt alles irgendwie zusammen, besteht ein geistiges Band, das die Themen und uns als Teilnehmer an dieser Tagung miteinander verbunden hat.

Philosophie als Auftrag der Arbeit an einer besseren Gesellschaft – so klang es in der Laudatio unseres Ersten Vorsitzenden Herrn Dr. von der Weppen auf unser neues Ehrenmitglied Prof. Dr. Franz Vonessen unausgesprochen durch, als er seine Werke beleuchtete und dabei das zeitkritische Engagement heraushob, das in Titeln wie Krisis der praktischen Vernunft oder Die Herrschaft des Leviathan bereits zum Ausdruck kommt.

Dennoch darf sich Philosophie nicht in der Anklage oder in sozialen Konzepten erschöpfen. Ihr Ursprung ist ja, wie der Name sagt, die Liebe zur Weisheit, jener Geisteshaltung, die über dem Wissen steht. Wer in diese Sphären eindringt, wo die Harmonie des Geistes zu Hause ist, der findet diese lächelnd.

So leitete Prof. Dr. Vonessen seinen Festvortrag – „Der Satz des Sokrates“ – mit einem Lächeln ein, wenn er auf die Märchenweisheit hinwies, daß die Heinzelmännchen, wenn man sie für ihre Arbeit belohnt, für immer verschwinden.

Der Satz des Sokrates, es verstoße gegen die Weltordnung, daß der Bessere von einem Schlechteren Schaden erleide, war in seiner Auslegung für mich geradezu eine Offenbarung: „Anytos und Meletos können mich töten; aber schaden können sie mir nicht“. Dieser Satz war für mich bisher etwas Bewundernswertes im Hinblick auf ein philosophisches Leben. Seit dieser Tagung empfinde ich ihn als eine Aufforderung für meine eigene Lebenshaltung. „Es kann mir nichts geschehen, was ich nicht will.“ Da sind Sätze wie jene des Redners geradezu tröstlich: „Das Gute trägt seinen Sieg in sich selbst.“ Wenn eine solche Überzeugung sich verbindet mit dem Glauben an die Gerechtigkeit, ja an eine unsterbliche Seele, dann liegt darin in der Tat eine Chance für ein Leben in gelassener Furchtlosigkeit; dann überzeugt die Aussage, daß der Mensch sich im Grunde nur selbst schaden kann.

Prof. Dr. Zimmermann stellte uns in seinem Vortrag „Das Sokratesbild in der griechischen Komödie“ die Verspottung des Sokrates durch Aristophanes als komischen Gelehrten so überzeugend vor Augen, daß in der Aussprache die empörte Feststellung der Verleumdung laut wurde. Hier brachte der Hinweis des Redners auf die damalige Praxis der Komödie – in diesem Fall: Sokrates als Chiffre für den Zeitgeist – Klarheit und ließ uns in dieser Komödie interessante Parallelen der sozialen Strukturen und Konflikte Athens zu unserer Zeit erkennen. Aufschlußreich für den damaligen Stellenwert der Demokratie war der Hinweis, daß der Demos nicht verspottet werden durfte.

Nach der Mittagspause, die so manches nachklingen ließ, brachte uns Herr Dr. Wodarzik mit seinem Vortrag „Immanuel Kant zu Ehren – zum Kantjahr 2004“ einen der größten Denker der Philosophiegeschichte nahe. Im Hinblick auf den Gesamtzusammenhang der Vortragsreihe ist für mich vor allem die Tatsache bemerkenswert, wie Kant in dem Wunsche, das Denkvermögen des Menschen zu Ende zu denken, immer wieder an eine Grenze gerät – Kant spricht von Transzendenz –, wo das Denken nicht mehr weiterkommt; wo die Weiterarbeit der Philosophie auf den einzelnen delegiert werden muß; wo das Gemüt und nicht mehr der Intellekt gefragt ist, um sich diesem Unsagbaren zu nähern.

Und ich empfinde es als eine hervorragende Planung der Vortragsfolge, daß eben an dieser Grenze nun der Künstler – hier der Lyriker – zu Worte kam, der in der Lage ist, das Unsagbare durch die „Obertöne“ des dichterischen Wortes dem geistigen Ohr hörbar zu machen, wo das reine Wort an seine Grenze stößt. Dem Dichter ist es vorbehalten – das verstand Prof. Dr. Günther uns zu vermitteln – das Gemüt als Antenne zum Reich des Geistes unmittelbar anzusprechen, dort wo Worte nicht mehr heranreichen. „Tod und Vergänglichkeit in der klassischen japanischen und in der europäischen Lyrik“ – diese Betrachtung an Hand zahlreicher Beispiele führte uns vor Augen, wie das Vergängliche das Gemüt des Menschen mit jener wehmutsvollen Süße zu erfüllen vermag, welche auszudrücken dem Dichter und der Kunst vorbehalten bleibt.

Ich erinnerte mich beim Hören dieser tief empfundenen Gedichte an Rilkes

„Herbst“
Die Blätter fallen, fallen wie von weit, als welkten in den Himmeln ferne Gärten; sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt. Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.“

Doch beim mentalen Zitieren wurde mir ein ganz wesentlicher Unterschied der Gedichte des fernen Ostens und der diesen nachempfundenen europäischen (wie bei Rückert) zu Rilkes Herbst deutlich: Rilke spricht durchaus wie jene den wehmutsvollen Frieden und die ästhetische Schönheit des Vergänglichen an; aber er sucht den Trost im Aufgreifen eines Gottesbildes, des All-Vaters, der uns in jenem Fallen sanft auffängt.

In der fernöstlichen lyrischen Betrachtung der Vergänglichkeit ist der Trost in der Symbolhaftigkeit des betrachteten Gegenstandes bereits enthalten: Die fallende Kirschblüte erfüllt den Betrachter mit jener Mischung aus Wehmut, Bewunderung und Freude, welche unvermittelt zur Seele des Betrachters spricht und aussagt, daß diese Erscheinung des Vergänglichen letztlich nur ein Abbild des ewigen Vergehens ist, welches aber in sich gleichzeitig das ewige Werden birgt. Die Kirschblüte als Symbol fügt – wie das griechische Wort symbolon es aussagt – das Sichtbare in seinem Zustand des Vergehens mit dem unsichtbaren Schöpfungsprinzip des Stirb und Werde zu einer Offenbarung zusammen, welche denjenigen, der sie versteht, befähigt, seiner eigenen Vergänglichkeit mit gelassenem Trost entgegenzusehen. So wird Kunst zur Ergänzung der Philosophie, um Welt und Schöpfung als Ganzheit aus Diesseitigkeit und Transzendenz zu verstehen.

Damit ist das Nachdenken in der Vortragsreihe in unmittelbare Nähe zum Religiösen gelangt, mag dieses auch nur im persönlichen Arkanum des Einzelnen verborgen sein.

So empfand ich den ersten Vortrag des heutigen Sonntags durchaus als eine folgerichtige Fortsetzung unserer Gedankenarbeit, wenn Herr Prof. Dr. Stegemann sein Thema – „Sokratische Aspekte in der paulinischen Überlieferung des Neuen Testaments“ – vor uns ausbreitete. „Johannes und Paulus im Nimbus des Sokrates“ – Religionen entstehen nicht unvermittelt aus dem nichts, und so konnte die philosophische Vielfalt des Hellenismus nicht ohne Einfluß auf die neue Religion bleiben. Wenn bei den Ausführungen einmal das Wort vom „einen wahren Gott“ fiel, so war das nicht als Predigt, sondern als Interpretation des Evangelisten Johannes zu verstehen.

Dabei erhebt sich die Frage, ob die einzelnen Götter in den polytheistischen Religionen nicht als Aspekte des Göttlichen schlechthin zu verstehen sind. Das Göttliche als schöpferische Urkraft scheint mir eine ewige Wahrheit zu sein. Die unterschiedlichen Formen seiner Verehrung müssen deshalb keine Trennung zwischen den Menschen herbeiführen.

So berechtigt das Anliegen nach dem toleranten Geltenlassen aller Religionen in einer Fragestellung auch war, so hätte ein ausführliches Eingehen darauf zu weit vom gestellten Thema weggeführt, und so empfand ich das Bekenntnis des Redners zum christlichen Monotheismus in seiner formulierten Zurückhaltung eher als ein ganz persönliches. Noch mehr: mir schien die Art der Betrachtungsweise weit entfernt zu sein von jeglichem Eifer, der uns im aktuellen Religionsfanatismus zeigt, wie man Religionen, die zum inneren Frieden führen sollen, in ihr Gegenteil verkehren kann.

Mit Prof. Dr. Schmidts Vortrag „Sokrates im Mittelalter“ schloß sich der Kreis unserer Betrachtungen. Denn die starke Beziehung des Sokrates in der mittelalterlichen Hermeneutik zur Ethik greift – bei aller ungewohnten Abweichung von dem uns vertrauten Sokratesbild – das Thema wieder auf, mit dem diese Tagung begonnen hat: Keine Philosophie ohne Ethik, Philosophie als Aufgabe an der Gesellschaft, aber auch Philosophie als weise Lebensgestaltung des einzelnen.

So hat die Sokratische Gesellschaft noch eine unerschöpfliche Themenfülle vor sich, und wir dürfen uns heute schon auf die nächste Tagung freuen.