Sokratischer Selbstdenkerpreis 2023

Erster Preis:
Hanna-Maria Webert (Wirsberg-Gymnasium Würzburg)

Die Unerhörte – Kassandra in der Antike und bei Christa Wolf

Hanna-Maria Webert hat mit ihrer Untersuchung zur Gestalt der Kassandra bei Euripides, Seneca und Christa Wolf eine zugleich (auch durchaus feministisch) engagierte, stringent aufgebaute und in Fragestellung und Vorgehen ausgesprochen reflektierte Arbeit vorgelegt. Ausgehend von der Beobachtung, dass selbst heute in der Postmoderne weibliche Figuren in vielen Bereichen von Politik und Gesellschaft immer noch unterrepräsentiert, beinahe unsichtbar sind, verfolgt sie diese Problematik bis in die Antike und gelangt zu Kassandra als beeindruckendem Beispiel einer von der Gesellschaft ihrer Zeit in tragischer Weise ignorierten, übersehenen und überhörten Frauenpersönlichkeit, der von Christa Wolf und nun auch von Hanna-Maria Webert schwesterlich eine Stimme verliehen wurde.

Die Kriterien, nach denen Hanna-Maria Webert die Kassandra-Figur in den wesentlichen Darstellungen der Antike und in Christa Wolfs moderner Rezeption analysiert (Kassandras Sehergabe, ihr Wahnsinn, ihre Subjekthaftigkeit versus Objektifizierung durch andere, ihr Bezug zu Apoll, ihre Rolle als Außenseiterin ihrer Gesellschaft und ihre Beispielhaftigkeit als Frauenfigur) ergeben einen schönen roten Faden, der die Leser:innen leitet, und ein umfassendes Gesamtbild der literarischen Gestalt. Immer bleiben dabei die antiken Gestaltungen als Intertexte präsent; souverän arbeitet Frau Webert aber als Jungwissenschaftlerin auch die einschlägige Sekundärliteratur in ihre Analyse ein, wobei sie – ganz in der Tradition einer sokratischen Selbstdenkerin – keine Meinung unkritisch übernimmt und durchweg eine große Fähigkeit zu differenzierten Betrachtungsweisen an den Tag legt. Für diese Leistung beglückwünschen wir sie herzlich!

Bericht der Schule zur Preisverleihung

Zweiter Preis:
Jonas Kleber (Augustinus-Gymnasium Weiden)

Die Ehreninschrift für Titus Flavius Archibios – ein Beispiel für griechische Wettkämpfe in der römischen Kaiserzeit

Die 1764 in Neapel im Bereich eines antiken Gymnasions aufgefundene Ehreninschrift für Titus Flavius Archibios ist um das Jahr 110 zu datieren und eine wichtige Quelle für den Spitzensport in der römischen Kaiserzeit. Die Ehrung gilt einem berufsmäßigen Athleten; die Wettkämpfe, an denen dieser in seiner langen Laufbahn teilgenommen, und die Preise, die er errungen hat, sind in der Inschrift sämtlich aufgelistet. Die Behandlung, die Jonas Kleber diesem Dokument zukommen lässt, darf als erschöpfend bezeichnet werden. Man erhält eine bearbeitete Transkription der Inschrift, eine eigenständige Übersetzung – was angesichts des lückenhaften Zustandes und des z.T. eigenwilligen Griechisch der Inschrift keine Selbstverständlichkeit ist – sowie einen philologischen und historischen Kommentar. In seiner Gesamtinterpretation stellt Jonas Kleber die Siege des Archibios in chronologischer Folge zusammen und ordnet die sich daran abzeichnende Karriere in die Entwicklung des griechisch-römischen Sportwesens ein. Damit enthüllt das Dokument über das Einzelschicksal hinaus seinen Quellenwert für die Besonderheiten der kaiserzeitlichen Sportwettkämpfe. Unter literarischer Perspektive vermag Jonas Kleber zu zeigen, das der „lapidare“ Stil des Textes trotz seiner scheinbaren Schlichtheit über Mittel verfügt, die Bedeutung des Geehrten auch durch sprachliche Gestaltung sichtbar zu machen.

Jonas Kleber zeigt in dieser ausgesprochen reifen Arbeit auf wissenschaftlichem Niveau den Willen und die Fähigkeit, ein historisches Dokument unter verschiedenen Perspektiven ins Auge zu fassen, sich zu diesem Zweck eine Vielzahl von Kenntnissen und Methoden anzueignen und genau und nötigenfalls mehrmals hinzusehen, statt sich mit einfachen Lösungen zufrieden zu geben. Wir gratulieren zu dieser Leistung sehr herzlich.