Sokratischer Selbstdenkerpreis 2024

Erster Preis:
Maximilian Leicher (Wilhelms-Gymnasium München)

Schlussakkord: Finales in Musik und Philosophie

Maximilian Leicher hat mit seiner Untersuchung eine in jeder Hinsicht außergewöhnliche Arbeit vorgelegt. Die Jury war von der Originalität der Fragestellung ebenso beeindruckt wie von dem Kenntnisreichtum und dem Reflexionsniveau der Durchführung – und auch von deren Kreativität. Maximilian Leicher zeigt sich philosophisch wie musikwissenschaftlich versiert und beweist den Willen zu ungewöhnlichen Fragestellungen.

Maximilian Leicher geht von der Beobachtung aus, dass das Nachdenken über den Tod ein zentrales Anliegen philosophischer und religiöser Texte ist und dass sie die Art und Weise des Lebensendes oft als besonders bedeutungsvoll erachten – eben als eine Art Schlussakkord des Lebens, so wie der Schluss eines Musikstücks, als der letzte Eindruck, mit dem die Hörerinnen und Hörer entlassen werden, in der Regel besonders überlegt gestaltet ist. Nicht wenige musikalische Kompositionen thematisieren direkt den Tod; der Schluss eines Musikstücks und die philosophische Todesreflexion können also als Annäherung an „das Ende“ in verschiedenen Medien begriffen werden, deren Herangehensweise zum Vergleich einlädt. Eben dies wird in der Arbeit anhand von je vier philosophischen Texten und Musikbeispielen durchgeführt. Dabei kommen so unterschiedliche Philosophen wie Platon und Sartre und Komponisten wie Stravinsky und Richard Wagner zu Wort. Einen wesentlichen Reiz der Darstellung macht es aus, dass sich Maximilian Leicher nie mit der scheinbar nächstliegenden Lösung zufrieden gibt und seine Leserinnen und Leser immer wieder zu überraschen vermag. So wird für den heroischen Tod nicht nur Sokrates als Exemplum herangezogen (statt etwa Achill oder Siegfried), sondern auch musikalisch kommt statt sich selbst als heroisch präsentierenden Stücken (Beethovens Eroica) die 7. Sinfonie von Jean Sibelius zur Sprache, die nicht für den großen Effekt des heroischen Sterbens steht, sondern für seine Selbstbestimmtheit und Einzigartigkeit. Den Symbolwert der letzten (unvollendeten) Mahlerschen Sinfonie für das friedliche Sterben führt Maximilian Leicher vor Augen, indem er vom theoretisch-musikwissenschaftlichen in einen lyrisch-mimetischen Duktus wechselt, der das Gemeinte unmittelbar sichtbar und spürbar macht.

Die vorgelegte Arbeit geht mit ihren Fragen und Antworten, in Inhalt und Form eigene Wege, bringt Dinge zusammen, die selten zusammengesehen werden, und wagt es, scheinbar festgefügte Grenzen von Textsorten zu überschreiten. Das zeugt nicht nur von Selbstdenken in bester sokratischer Tradition, sondern zugleich von künstlerischer Phantasie und Mut. Wir gratulieren zu dieser Leistung sehr herzlich.

Zweiter Preis:
Annika Große-Bockhorn (Reuchlin-Gymnasium Ingolstadt)

In muro veritas – was antike Graffiti über die Gesellschaft des alten Rom verrraten

Sehr gelungen, philosophisch reflektiert, beinahe poetisch gewinnt Annika Große Bockhorn gleich zu Anfang ihrer Arbeit die Aufmerksamkeit des Lesepublikums durch die Beschreibung einer geradezu überzeitlichen Handlung: ein paar Jungen verewigen sich auf einer Kreidetafel in der Mall of Berlin. „Ich war hier“ – der Wunsch, Spuren der eigenen Existenz zu hinterlassen – diesen roten Faden lässt die junge Autorin sich durch ihre ganz außergewöhnliche Arbeit ziehen, in der sie einen mustergültigen Überblick über Geschichte und Genres antiker Graffiti bietet und den sozialgeschichtlichen Quellenwert dieser Überlieferung aufzeigt. Von Spott- und Phallusgesichtern über Sportlerkult bis hin zu politischen Schmierereien ist alles dabei und wird am Ende durch die Beobachtung moderner Graffitiwettbewerbe und Schulbankkritzeleien in ihrer Heimatstadt mit einem überzeugenden Sitz im Leben versehen.

Dieser innovativen, eigenständigen und durch ihre Engagiertheit im Zusammenbringen von Antike und Moderne ausgezeichneten Arbeit spricht die Jury der Sokratischen Gesellschaft den zweiten Platz des Selbstdenker:innenpreises zu. Denn mit der Erkenntnis, dass manche Dinge – wie der Wunsch durch schriftliche Zeugnisse im öffentlichen Raum über die eigene Lebenszeit hinaus von sich Reden zu machen – immer eine menschliche Konstante bleiben werden, zeigt Annika Große Bockhorn in berührender sokratischer Tradition auf, wie viel die Antike uns auch heute noch zu sagen hat.